Im Jahr 2008 stürzte der Weltkapitalismus in eine Krise, die zum Auslöser für Massenbewegungen auf der ganzen Welt wurde und dazu geführt hat, dass der Kapitalismus von ArbeiterInnen und Jugendlichen in Frage gestellt wird. Die Bourgeoisie verliert vor lauter Angst buchstäblich den Verstand. Von Sandro Tsipouras.
2011 gab es unter Bankern, Managern und Spekulanten den Trend, auf ihren Balkonen Champagner zu trinken, während Demonstrationen der Occupy-Wall-Street-Bewegung, die den Slogan „We are the 99%“ prägte, vorbeizogen. Mal bewarfen sie die DemonstrantInnen mit McDonald’s-Bewerbungsformularen, mal hängten sie Schilder mit der Aufschrift „We are the 1%“ aus ihren Fenstern.
Zehn Jahre später ist von dieser Arroganz kaum etwas übrig geblieben.
Die Arroganz weicht der Angst
Wir berichteten (Funke Nr. 191: GameStop) von weinenden Bankern und Hedgefondsmanagern, die Milliarden Dollar an gewöhnliche, arbeitende Menschen verloren. Amateur-Investoren trieben, koordiniert in sozialen Medien, die GameStop-Aktie (Börsenkürzel „GME“) in die Höhe, während die Profi-Spekulanten auf fallende Kurse setzten. Anfang März kommentierte das Forbes-Magazin, ein Sprachrohr des US-amerikanischen Finanzkapitals, diese Erfahrung so: „Das GME-Ereignis ist … die vorsätzliche, räuberische Niederwerfung eines in die Enge getriebenen und wehrlosen Kontrahenten.“
Hier kommt die mentale Verfassung der Bourgeoisie im Jahr 2021 pointiert zum Ausdruck. Milliardäre fühlen sich „in die Enge getrieben“ und „wehrlos“. Wenn sie mal Geld verlieren, fühlen sie sich als Opfer eines räuberischen Verbrechens. Als gäbe es keine ärmeren Menschen als sie auf der Welt.
Die Verknüpfung von weinerlichem Schmollen mit sozialchauvinistischer Verachtung charakterisiert das Bewusstsein einer herrschenden Klasse, die spürt, dass sie angezählt wird. Dieses Gefühl hat sich seit 2008 tief ins Bewusstsein der Bourgeoisie hineingegraben. Sie fühlen sich überhaupt nicht nur in Bezug auf „das GME-Ereignis“ so – dieses ist nur ein willkommener Anlass, sich einmal lauthals über den unverschämten Pöbel zu beschweren –, vielmehr ist es für diese Klasse der Superreichen nahezu unmöglich geworden, zu ignorieren, dass sie selbst nur noch ein sinnloser, weil rein parasitärer Teil der Gesellschaft ist.
Bild: socialistrevolution.org
Niemand kann ernsthaft behaupten, dass es eine gute Idee für die Menschheit wäre, so weiter zu machen wie bisher. Entsprechend grotesk wirkt es jetzt, wenn die Bourgeoisie sich die Ohren zuhält und gerade diese Behauptung immer hysterischer in die Welt hinausbrüllt wie ein Kleinkind, das auf einer offenkundig unvernünftigen Idee beharrt: „Die Gegenwart ist gut! Es gibt keinen Grund, unzufrieden zu sein! Das einzige Problem sind Leute, die mit der Gegenwart unzufrieden sind!“
So betreibt insbesondere die US-amerikanische Bourgeoisie seit Jahren eine immer intensivere, immer verzweifeltere Propaganda gegen den Sozialismus und für den Kapitalismus. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist ein 76-seitiger Bericht, der 2018 vom Weißen Haus herausgegeben wurde.
Hier wird zuerst die schockierende Tatsache festgestellt, dass ein Viertel der US-amerikanischen Bevölkerung mit sozialistischen Ideen sympathisiert, um dann die übliche Litanei herunterzuleiern: Der Sozialismus zerstöre die Motivation der Menschen, der Markt reguliere sich selbst am effizientesten und dergleichen mehr. Das war der Auftakt für einen Generalangriff der bürgerlichen Propaganda in den USA. Während des darauffolgenden Wahlkampfes warf der damals amtierende Präsident Trump seinem Gegner vor allem anderen vor, ein „radikaler Sozialist“ zu sein. „Amerika wird niemals ein sozialistisches Land werden!“, verkündete er auf Wahlkampfveranstaltungen –obwohl sein Herausforderer Joe Biden natürlich weder vor noch nach seinem Wahlsieg vorgehabt oder auch nur versprochen hat, die USA zu einem solchen zu machen. Warum war es Trump wohl trotzdem so wichtig, diese Message zu verkünden?
Diese ununterbrochene Hetze ist mittlerweile ein fixer Bestandteil des tagtäglichen Nachrichtenangebots in den USA. Eine einfache Suche nach dem Schlagwort „socialism“ auf Google News bringt seitenweise Artikelüberschriften wie diese zutage: „Vier Gründe, warum der Sozialismus asozial ist“, „Die größte Bedrohung für Amerika ist der Sozialismus“, „Warum das sozialistische Projekt scheiterte“, und dergleichen mehr, keine von ihnen älter als einen Tag. In keinem dieser Artikel steht ein Satz, der es wert wäre, zitiert zu werden, nur lauter Lügen und Horrorgeschichten.
„Reichensteuern sind Terror“
In der Propaganda der europäischen Bourgeoisie wird der Sozialismusbegriff viel weniger betont, was letztlich auf die Existenz einer reformistischen Massentradition zurückzuführen ist. Die „sozialistischen“ Führer haben in Europa längst bewiesen, dass sie im Augenblick der Wahrheit die Befehle der Bourgeoisie getreu umsetzen. Dennoch strengt sich die europäische Bourgeoisie sehr an, um auf ihre Weise auf der Alternativlosigkeit der herrschenden Zustände zu beharren.
Ende Februar schrieb die zum deutschen Springer-Konzern gehörende „Welt“ über die Schauspielerin Jella Haase, sie teile die „Grundgedanken der RAF“, einer linksradikalen Terrororganisation, die in den 70er und 80er Jahren in Deutschland aktiv war. Und worin bestehen diese Grundgedanken? „Kapitalismuskritik.“ Genauer: „Die Märkte müssten gesetzlich besser reguliert, Konzerne wie Amazon oder Google ganz anders besteuert werden.“
Die RAF hat natürlich niemals gefordert, Großkonzerne stärker zu besteuern. Als linksradikale Sektierer haben diese Terroristen auf die Aufstellung eines politischen Programms völlig verzichtet. Warum aber assoziiert die Bourgeoisie „Kapitalismuskritik“ mit der RAF und ihren Terroranschlägen? Warum ist es ihr wichtig, dass „Kapitalismuskritik“ mit Mord und Gewalt in Verbindung gebracht wird?
Weil aus ihrer Perspektive die Forderung nach höheren Steuern für Amazon und der Mord an unschuldigen Menschen in dieselbe Richtung gehen. Weil ihr die Kontrolle über die Gesellschaft ohnehin schon an allen Ecken und Enden entgleitet. Auf die zaghafteste Infragestellung ihrer gesellschaftlichen Position reagiert sie mit hysterischem Kreischen und an Realitätsverlust grenzenden Übertreibungen. Wer den Kapitalismus und die Herrschaft der Konzerne kritisiert, und sei es auch nur durch Kritik daran, dass sie de facto keine Steuern zahlen, den muss man ebenso wie die RAF-Terroristen verfolgen, einsperren und wenn nötig umbringen – das ist hier letztlich die Implikation. So kompromissunfähig ist die Bourgeoisie, wenn es um ihre Herrschaft geht.
Doch so grotesk diese paranoiden Ausfälle sein mögen, sie sind wohlbegründet: Dass Kapitalismuskritik ein Massenphänomen wird, ist für die Bourgeoisie noch deutlich gefährlicher als eine kleine Gruppe gesellschaftlich isolierter Terroristen. Terroristen kann man einsperren, die Massen aber sind unbesiegbar.
Die antisozialistische Propaganda läuft immer auf den Versuch hinaus, die Angst der Bourgeoisie darzustellen und den Leser denken zu lassen, auch er müsste sich vor dem Sozialismus fürchten, auch er würde im Fall einer Revolution zu den Verlierern gehören: Im Sozialismus darfst du dich nicht mehr selbstständig machen! Im Sozialismus entscheidet der Staat alles für dich! Im Sozialismus wird dir alles weggenommen! Sozialisten, von Kommunisten ganz zu schweigen, sind Mörder und Terroristen, die nicht zögern würden, dich zu töten! Schau nur die DDR an, denk nur an Stalin!
Das Problem ist nur: Für den Rest der Menschheit wäre es außerordentlich vorteilhaft, wenn die Bourgeoisie in diese unangenehme Zwangslage geriete. Der Rest der Menschheit hat zu wenig oder kein Eigentum, das man ihm wegnehmen, oder auch nur wegbesteuern könnte. Allerdings leidet diese Mehrheit gewaltig darunter, dass es ein paar wenige Leute mit Eigentum enormen Ausmaßes gibt.
Je tiefer die Krise des Kapitalismus wird, desto weniger abschreckend wirken die Horrorgeschichten der Bourgeoisie, desto schwerer ist vorstellbar, dass es nach einer Revolution noch schlimmer kommen könnte als jetzt. Seit dem Bestehen der EU-Grenzschutzagentur Frontex ist es um die Toten an der Berliner Mauer merkwürdig still geworden. Und wer, wie alle US-Regierungen der letzten Jahre, Kinder über Monate in Käfige sperrt, dem mag man die Betroffenheit über Arbeitslager in der Sowjetunion nicht recht abnehmen.
Kapitalistische Vorbilder
Die Menschen identifizieren sich also immer weniger mit der Bourgeoisie, haben immer weniger Verständnis für ihre Angst. Diese kann das aber gar nicht verstehen. Sie ist überzeugt, dass jeder so sein will wie sie. Sie versucht, den Menschen den Kapitalismus schmackhaft zu machen, indem sie Propaganda darüber macht, dass man so werden kann wie sie. So erscheint ein Artikel nach dem anderen über die Erfolgsgeschichten eines Jeff Bezos, Elon Musk oder Steve Jobs, ein Buch nach dem anderen über die Erfolgsgeheimnisse reicher Businessmänner. Die bürgerliche Presse geht wie selbstverständlich davon aus, dass jeder und jede diese Menschen als Vorbilder betrachtet und ihrem „Erfolg“ nacheifert. Aber immer mehr Menschen betrachten sie stattdessen korrekterweise als ihre Feinde und lachen über diesen absurden Personenkult sowie über die „Self-Improvement“-Kultur, die dazugehört.
In seiner Schrift „Der linke Radikalismus“ schrieb Lenin 1920:
„Mag die Bourgeoisie toben, bis zum Irrsinn wüten, übertreiben … indem die Bourgeoisie das tut, handelt sie, wie alle von der Geschichte zum Untergang verurteilten Klassen gehandelt haben. Die Kommunisten müssen wissen, daß die Zukunft auf jeden Fall ihnen gehört.“
Lenin macht hier darauf aufmerksam, dass die Propaganda der Bourgeoisie mit ihrem „Irrsinn“ selbst schon beweist, dass diese Klasse und ihr System, der Kapitalismus, zum Untergang verurteilt sind. Je offensichtlicher das wird, desto irrsinniger und abstruser werden die Gedanken und Aussagen der Bourgeoisie und desto zuversichtlicher dürfen wir sein, dass wir ihre schlimmsten Befürchtungen wahr machen, die Menschheit von ihr befreien und eine Welt errichten können, die frei von Not und Elend ist.
Die Angst der Bourgeoisie ist völlig berechtigt.
(Funke Nr. 192/17.3.2021)