Die Regierung plant einen Umbau der österreichischen Sozialversicherungen, den Kanzler Kurz selbst als „größtes Reformprojekt der Geschichte Österreichs“ bezeichnet. Was dahinter steckt und wie(so) man dagegen kämpfen muss. Von Yola Kipcak.
Wenn es um Krankenversorgung geht, sind sich die meisten Menschen in Österreich zunächst einig: Eine qualitative Versorgung für alle Menschen in der Gesellschaft ist wichtig. Beispiele wie die USA, wo sich Menschen aufgrund von einfach zu behandelnden Krankheiten in Schulden stürzen müssen, werden vom „Durchschnittsösterreicher“ als abschreckend und völlig irrational wahrgenommen. Niemand tritt offen für eine „Zwei-Klassen-Medizin“ ein. Dementsprechend lügnerisch geht die Regierung Kurz ans Werk. Doch woher kommen unsere Sozialversicherungen und wie funktionieren sie eigentlich? Es lohnt sich, einen genaueren Blick darauf zu werfen, um zu verstehen, was die von der Regierung geplanten, tiefgreifenden Änderungen bedeuten.
Klassenkampf und Krankenkassen
Der Beginn der Krankenversorgung ist in Österreich eng mit der Entstehung der Arbeiterbewegung verknüpft. Der autoritäre österreich-ungarische Staat sah gegenüber seinen Untertanen keinen Versorgungsauftrag, und die ArbeiterInnen waren in Krankheits- und Unfällen auf Armenfürsorge der Gemeinde oder die Gnade der Unternehmer angewiesen.
1867 wurde dem Kaiser eine Verfassung abgerungen, die die Gründung von (unpolitischen) Vereinen ermöglichte. Allerorts entstanden nun Arbeitervereine. Neben Bildung sahen sie ihren Auftrag in der Gründung erster Kranken- und Invalidenunterstützungskassen. In den folgenden Jahrzehnten wurden in zahlreichen Vereinen, Betrieben und Bergbaubetrieben Kassen gegründet, 1873 umfassten 237 Arbeitervereine und Gewerkschaften mehr als 80.000 Mitglieder.
Die Angst vor der erstarkenden Arbeiterbewegung bewog Ministerpräsident Eduard Taaffe dazu, 1889 Gesetze zur Kranken- und Unfallversicherung von ArbeiternInndn zu erlassen, wodurch die Anzahl der Versicherten auf 1,5 Mio. stark ausgeweitet wurde (aber immer noch nur einen kleinen Teil der insgesamt 9,8 Mio unselbständig Erwerbstätigen im Reich erfasste). Er erhoffte sich, so den Einfluss der Sozialisten in den Krankenkassen zurückzudrängen und die Arbeiterbewegung durch Zugeständnisse vom Staat zu befrieden (damals wie heute werden die Kassen jedoch aus Beiträgen der Versicherten und nicht aus dem Staatsbudget finanziert). Bereits damals waren die Kassen selbstverwaltet: In den Vereins-, Baukassen und den „Bruderladen“ der BergarbeiterInnen hatten die ArbeiterInnen die Mehrheit in den Vorständen, die direkt von den Mitgliedern gewählt wurden. In Vorständen der Betriebs-, Bezirks-, und Genossenschaftskassen wurde der Anteil der ArbeiterInnen gesetzlich auf 1/3 beschränkt.
Die Geschichte der Krankenkassen über all die Jahrzehnte zeigt deutlich, dass die Stärke der Arbeiterbewegung bestimmt, in welchem Ausmaß die Unternehmer für die ArbeiterInnen im Krankheitsfall aufkommen, und wie groß ihre Mitbestimmung ist. Als etwa 1931 die Christlich-Sozialen eine „Reform“ der Sozialversicherungen und Einschnitte bei der Notstandshilfe durchsetzen wollte, scheiterten sie am Widerstand der ArbeiterInnen.
Wie funktionieren unsere Sozialversicherungen?
Nach der Befreiung vom Faschismus wurden die Sozialversicherungen neu aufgestellt. Die Angst der Herrschenden vor einer revolutionären Welle in Europa verlieh der Arbeiterbewegung große Macht, die die reformistischen Führungen staatstragend einsetzten. Die Demokratie in den Arbeiterorganisationen wurde, besonders nach der Niederlage des Oktoberstreiks 1950, massiv zurückgedrängt, um so eine stabile Basis der Zusammenarbeit mit den UnternehmerInnen im Rahmen des Staatsapparates zu schaffen. Die Sozialpartnerschaft wurde so gegen die jahrelang anhaltende aktive Opposition breiter Teile der Klasse durchgesetzt. Die Wiedereinführung der Selbstverwaltung in den Krankenkassen wurde von den Bürgerlichen unter der Voraussetzung ihrer Entdemokratisierung wieder etabliert. Statt Direktwahlen der Kassenvorstände werden die Gremien seither durch VertreterInnen der Kammern beschickt.
Die Sozialversicherung ist in drei Sparten geteilt: Unfall-, Kranken- und Pensionsversicherung. Diese Aufgaben werden je nach Berufsgruppe von unterschiedlichen Versicherungsträgern erfüllt (vgl. Grafik 1). Für ArbeiterInnen und Angestellte ist bei Unfällen die AUVA (Allgemeine Unfallversicherungsanstalt) zuständig (darüber mehr in der kommenden Ausgabe). Bei Krankheit gibt es 9 Gebietskrankenkassen (in jedem Bundesland eine), sowie aus historischen Gründen noch 5 Betriebsversicherungen, die von den ArbeiterInnen der Betriebe eigens erkämpft und erhalten wurden (z.B. VOEST-Alpine). Zuständig für Pensionen ist die Pensionsversicherungsanstalt (PVA).
Die EisenbahnerInnen und BergbauarbeiterInnen haben eine eigene Versicherung (VAEB), die für diese Berufsgruppe alle drei Aufgabenbereiche erfüllt (mit der Ausnahme, dass Bergbauunfälle in der AUVA geblieben sind). Die Versicherung der Beamten, die BVA, deckt Unfälle und Krankheit ab – ihre Pensionen sind seit 2003 gemeinsam mit den ArbeiterInnen in der PVA. Schließlich gibt es eigene Versicherungen für Bauern (SVB – übernimmt alle Aufgabenbereiche) und UnternehmerInnen (SVA – übernimmt Krankheit und Pensionen, Unfälle sind bei der AUVA). Zuletzt gibt es eine eigene Pensionsversicherung für Notare.
Über all diesen Versicherungen steht der Hauptverband der Sozialversicherungen, der als Art Dachverband wesentliche Richtlinien („Wer bekommt eine Gratiszahnspange?“) beschließt.
„Umfärbung“: Wirtschaft und Regierung in die Krankenkassen
Alle diese Versicherungen sind selbstverwaltet: Sie können eigenständig kontrollieren, ob die Unternehmen ihre Arbeitskräfte richtig melden, rechtmäßig eingezahlt wird, ihr Budget verwalten und Kassenverträge mit ÄrztInnen verhandeln. Dazu gibt es jeweils Vorstand, Generalversammlung, und Kontrollversammlung. In den Krankenkassen der ArbeiterInnen werden 4/5 der Generalversammlung und des Vorstands von der Arbeiterkammer (AK) beschickt, 1/5 von der Wirtschaftskammer (WKO) (vgl. Grafik 1). Das heißt, dass VertreterInnen der Arbeiterklasse, um deren Versicherungsleistungen es schließlich auch geht, hier eine klare Mehrheit haben. Umgekehrt kontrollieren die UnternehmerInnen ihre Versicherung (die SVA) aber zu 100% selbst.
Der starke Einfluss der Arbeiterkammer in den Krankenkassen ist der Regierung und ihrem Hauptklientel, den Großindustriellen, ein Dorn im Auge. In Zukunft soll eine zentrale „Österreichischen Gesundheitskassa“ (ÖGK) alle Gelder einsammeln. Die Kontrolle darüber, ob alle Beiträge gezahlt werden, soll künftig allerdings dem Finanzministerium überlassen werden. Dass das unterbesetzte Ministerium eine etwaige inkorrekte Versicherung von Angestellten durch die Unternehmer schon mal ‚übersehen‘ könnte, ist dabei vorprogrammiert, auch wird dort nur der tatsächliche Geldfluss, nicht jedoch die korrekte Bezahlung der Lohnempfänger an sich kontrolliert. Verwaltet werden sollen die ÖGK von einem Generaldirektor und einem Verwaltungsrat, in dem AK und WKO 50:50 vertreten sind – außerdem bekommt die Regierung mit zwei „Bundeskommissaren“ erstmals direkten Zugang zu Entscheidungsgremien. Zusammengefasst: Die Wirtschaft soll nun die Hälfte der Mitbestimmungsrechte in den Krankenversicherung der ArbeiterInnen haben; die Regierung erstmals ein (mehrheits-ausschlaggebendes) Stimmrecht.
Obgleich sich die großen Veränderungen bei den Krankenkassen der ArbeiterInnen und Angestellten abspielen, gibt es auch für andere Versicherungsträger Vorschläge: die Beamten- und Eisenbahnversicherung wird zukünftig zusammengelegt, und auch Bauern und UnternehmerInnen werden sich eine Versicherung teilen (die SVS). Insgesamt werden somit die Versicherungsträger von 22 auf maximal 5 reduziert.
Knackpunkt: Sparen für die Reichen
In aller Munde sind derzeit die Verwaltungsreformen der Versicherungen. Verständlicherweise sorgen sie für große Aufregung bei Arbeiterkammer und Gewerkschaften – droht hier doch ihre Entmachtung. Die ehrenamtlichen Funktionen in den Vorständen der Krankenkassen werden mit bis zu 40% eines Nationalratseinkommens monatlich entschädigt, doch die ganz große Mehrheit der 2.000 Funktionäre bekommt nur ein Taschengeld. „Verlierer sind die Vertreter des Systems“, behauptete so Kanzler Kurz über die Reform, dies ist eine Lüge. Diese Reform macht nur Sinn als strukturelle Vorleistung für kommende Kürzungen von Versicherungsleistungen.
Diese hält die Regierung jedoch strategisch besonders vage und verneint sie sogar. Im neoliberalen Neusprech spricht sie von der „Harmonisierung der Leistungen“. Dass die größten Unterschiede allerdings zwischen Gebietskrankenkassen und Beamtenversicherung bestehen, und dass wiederum die Leistungen der Beamten, Bauern und Unternehmerversicherungen nicht angetastet werden, wird nicht dazu gesagt. Letztlich bedeutet „Leistungsharmonisierung“ nichts anderes, als weniger für ArbeiterInnen und Angestellte anzubieten. In Worten des Industriellenvereinigungs-Präsidenten Kapsch: „Was nicht funktionieren wird ist, dass man alles nach oben harmonisiert.“ (Presse, 16.5.)
* Wirtschaft und Regierung: Finger weg von den Kassen!
Die geplante Verwaltungsreform bei den Versicherungen ist nichts anderes als die Vorbereitung eines Raubzugs der KapitalistInnen und der Regierung auf die Versicherungsleistungen der Arbeiterklasse.
- Die Versicherungen für die abhängig Beschäftigten stellen allen Versicherten Kranken-, Unfall-, und Pensionsversorgung zur Verfügung, und zwar mittels Gelder, die die ArbeiterInnen selbst erarbeiten. Jede Senkung von „Lohnnebenkosten“ ist ein Raub an den ArbeiterInnen, die den gesellschaftlichen Reichtum erarbeiten und sich ihre soziale Versorgung damit völlig selbst finanzieren.
- Die Selbstverwaltung der Versicherungen muss demokratisch durch VertreterInnen der Arbeiterklasse selbst geschehen. Dafür sollten die Funktionen in Vorständen und Generalversammlungen der Kassen auch keine materiellen Vorteile bieten und demokratisch von den Versicherten direkt gewählt werden – wie dies bis vor dem Zweiten Weltkrieg auch der Fall war.
* In die Offensive: „Leistungsharmonisierung“ nach oben!
- Dem hinterhältigen Angriff der Regierung im Interesse des Großkapitals auf die Interessen der ArbeiterInnen muss eine mutige Offensive entgegengestellt werden: Der „soziale Friede“ ist bereits von oben gebrochen worden! Der Kampf darf nicht um die „Augenhöhe“ bei den Verhandlungen geführt werden, sondern muss um den sozialen Inhalt stattfinden – keinerlei Verschlechterung für arbeitende Menschen!
- Stattdessen müssen wir den Kampf für Arbeitsrechte und den Sozialstaat vereinigen und entschlossen führen. Dazu brauchen wir Betriebsversammlungen in ganz Österreich, die nicht nur informieren, sondern auch konkrete Vorbereitungen zu Kampfmaßnahmen einleiten.
Dieser Artikel erschien erstmals am 30.5.2018 im Funke Nr. 164