Die Debatte um die Sicherungshaft beweist einmal mehr, wie morsch das demokratische Gerüst am kapitalistischen Fundament geworden ist. Eine Analyse von Julia Brandstätter.

 Die von Schwarz-Blau geforderte Sicherungshaft für „potenziell gefährliche AsylwerberInnen“ ist die Sanktionierung eines bloßen Risikos. Sie könnte schon vor Begehung einer Tat verhängt werden. Die Haftdauer kann 6 Monate übersteigen, wenn von dem/der Inhaftierten „besondere, tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder nationale Sicherheit ausgeht“. Eine Obergrenze ist im Gesetzesentwurf überhaupt nicht vorgesehen, lediglich in den Erläuterungen werden 18 Monate vorgeschlagen. Die Sicherungshaft verletzt nicht nur den Rechtsgrundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ („kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz“), sie ist eklatanter Eingriff in die verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiheitsrechte. Mit der Einführung der Sicherungshaft wäre der Damm für weitere Gesetzesänderungen gebrochen, die dem Staat noch mehr Möglichkeiten in die Hand geben würden, die Bevölkerung niederzuhalten.

Inhaftierungen in Zeiten zugespitzter Klassenkämpfe

Alle möglichen juristischen Spielarten eines „vorsorglichen“ Freiheitsentzugs, ob man ihn nun Sicherungshaft, Verwahrung oder Präventivhaft nennt, stehen nicht zufällig wieder auf der politischen Tagesordnung in ganz Europa. Die Aufgabe des Staates besteht im Wesentlichen darin, diejenigen Bedingungen zu schaffen und aufrechtzuerhalten, die dem Großbürgertum die bestmögliche Profitmaximierung und Festigung ihrer Machtposition garantieren. Als „ideeller Gesamtkapitalist“ stellt der Staat also das Gesamtinteresse der bürgerlichen Klasse sicher. In den 1950ern und 1960ern verwirklichte der Staat dieses Vorhaben mit Sozialpolitik, Gesetzgebung und ideologischer Disziplinierung. Der wirtschaftliche Aufschwung ermöglichte damals einen Klassenkompromiss von Unternehmertum und organisierter Arbeiterschaft. In Zeiten des zugespitzten Klassenkampfs hingegen, wie wir ihn in Frankreich beobachten können, hält der Staat die Bevölkerung zusehends mit Notgesetzen und Polizei nieder.

Laut EU-Kommission gab es 2018 bereits in zwölf Mitgliedstaaten Regelungen, die eine präventive Inhaftierung von AsylwerberInnen „aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung“ ermöglichen. In Frankreich sitzen momentan 275 Minderjährige in Präventivhaft, ohne eines Verbrechens beschuldigt zu werden. Mittlerweile werden auch Mitglieder der Gelbwestenbewegung zur „Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung“ präventiv inhaftiert. Die polizeilichen Massenverhaftungen wurden auf Befehl des Justizministeriums durchgeführt. Schon das Tragen einer Schutzbrille oder der Besitz von Kochsalzlösung, die zur Behandlung bei Tränengaseinsätzen verwendet wird, genügt für einen Haftbefehl. Der leitende Pariser Staatsanwalt hat laut Medienberichten sogar verfügt, die Freilassung von festgenommenen „Gelbwesten“ so lange wie möglich hinauszuzögern, auch wenn keine Gründe für eine Anklage gefunden werden können. Damit wird bezweckt, möglichst viele Menschen möglichst lange von den Protesten fernzuhalten. Aber damit nicht genug. Premierminister Édouard Philippe hat am Montag Demonstrationsverbote angekündigt, die das Grundrecht der Versammlungsfreiheit in Luft auflösen.

All das zeigt, dass die Grund- und Freiheitsrechte auch in Europa nicht etwa „universal und unantastbar“ sind, sondern von den Regierungen ohne mit der Wimper zu zucken beschränkt und verworfen werden, sobald ihre Herrschaft in Bedrängnis gerät. Nicht nur die Grund- und Freiheitsrechte, die bürgerliche Demokratie selbst ist, wie jede andere ihr vorausgegangene Staatsform, nicht in Stein gemeißelt.


Sozialdemokratische Lähmungserscheinungen

Mittlerweile hat die SPÖ ihre Zustimmung zur Sicherungshaft (die aufgrund der Zweidrittelmehrheit nötig wäre) verweigert. Aber ihre Reaktion auf diese ganze Debatte geht über Appelle an die liberale Vernunft nicht hinaus. Während die Regierung stufenweise demokratische Errungenschaften abbaut, will die Parteispitze wieder als Verhandlungspartnerin „ernst genommen“ werden. Rendi-Wagner forderte die Einrichtung einer beim Justizministerium angesiedelten Taskforce zur Aufklärung des Mordes in Dornbirn, den Schwarz-Blau als Anlass für ihre Forderung heranzieht. Erst danach würde feststehen, ob eine Sicherungshaft zweckdienlich sei oder nicht. Dieses Argument ist fadenscheinig. In Wirklichkeit geht es um die rassistische Instrumentalisierung eines Mordfalls zur Legitimation eines verfassungsrechtlichen Tabubruchs. Die SPÖ-Führung weigert sich, die herrschenden Argumentationsfäden zu durchtrennen und die Erforderlichkeiten des Moments zu benennen. Sie wünscht sich nicht nur zurück an den Verhandlungstisch, sondern will um jeden Preis zurück in ihre staatstragende Rolle als Koalitionspartnerin schlüpfen.

Diese Position gipfelt in der absurden Idee von Spitzenvertretern der Partei, wie Doskozil und Ludwig, in Verteidigung des Gleichheitssatzes die Sicherungshaft für alle zu fordern, also gleiches Unrecht für alle! Diese geistlosen Ergüsse sind Ergebnis einer völlig verdrehten Auffassung von Sicherheits- und Justizpolitik in der Partei. Heutzutage fasst die SPÖ Sicherheit nicht mehr als soziale Sicherheit, Kriminalität nicht mehr als Ergebnis von Armut. Ihre sicherheits- und sozialpolitischen Konzepte richten sich nicht nach den realen Verhältnissen (wachsende Armut, stagnierende und schrumpfende Reallöhne usw.), sondern nach einer fingierten rassistischen „Mehrheitsmeinung“, an der man „anknüpfen“ müsse.
All diese Dinge sind nicht vom Himmel gefallen. Wir dürfen nicht vergessen: Der Abbau demokratischer Rechte wurde schon in der Großen Koalition mit Asylnotstandspolitik und der Verschärfung des Demonstrationsrechtes vorangetrieben.
Demokratische Freiheitsrechte sind für die Arbeiterklasse Mittel zum Zweck: Zum Zweck, sich besser organisieren und freier gegen die Ausbeutung kämpfen zu können. Es ist kein Wunder, dass dieser Zweck der völlig auf Staatsteilhabe und Sozialpartnerschaft orientierten Führung der Sozialdemokratie verborgen bleibt und damit auch diese Rechte zur „Verhandlungsmasse“ werden.

Es wäre die Aufgabe der Linken in der Partei, endlich den ständigen Kompromiss und Nichtangriffspakt mit der Parteispitze und der äußersten Rechten um Doskozil aufzugeben. Die passende Forderung für so eine Offensive kann nur sein: Nein zu jeder Verschlechterung in demokratischen oder sozialen Rechten, Parteiausschluss von Doskozil!

(Funke Nr. 172/April 2019)


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