Spätestens mit der (trotz Verbot) abgehaltenen Demo von rund 10.000 Personen in Wien wurde die Szene der Corona-LeugnerInnen zu einem innenpolitischen Faktor. Was diese „Querdenker“-Bewegung antreibt, analysiert Konstantin Korn.
Die Pandemie hat bislang nicht nur weltweit 2,5 Millionen Tote gefordert und in einer Reihe von Ländern das Gesundheitssystem an den Rand des Zusammenbruchs gebracht, sondern auch die schwerste Weltwirtschaftskrise seit Menschengedenken ausgelöst und das gesellschaftliche Leben massiv gestört. Die Folgeerscheinungen dieser Krise sind mittlerweile auf ganz vielen Ebenen spürbar. Die Sorge um die Gesundheit, die Angst vor Arbeitslosigkeit und generell materielle Existenzsorgen, die Einschränkung sozialer Kontakte und der Wegfall von all dem, was uns sonst abseits vom ständigen Leistungsdruck in Arbeit und Schule ein Stück „schönes Leben“ beschert (Essen gehen, der Besuch einer Kulturveranstaltung oder eines Sportevents, Urlaub oder einfach Freunde und die Familie treffen), das lässt bei vielen Verzweiflung aufkommen. Die Kollateralschäden dieser Krise haben in der Tat ein erschreckendes Ausmaß erreicht.
Und dazu kommt das wachsende Bewusstsein, dass die Regierung und alle Verantwortungsträger unfähig sind, diese Pandemie in den Griff zu bekommen. Hier paaren sich bewusst gewählte Entscheidungen im Sinne der Interessen einflussreicher Kapitalgruppen (Industrie, Bauwirtschaft, Seilbahnwirtschaft) mit offensichtlicher Inkompetenz (Chaos bei Test- und Impfstrategien). Das Staatsversagen ist offensichtlich. Das ist der Boden, auf dem seit Monaten und beschleunigt seit dem dritten Lockdown Ablehnung gegen die Vorgangsweise der Regierung gedeihen kann und das Vertrauen in die staatlichen Institutionen untergraben wird.
Viel Platz für Neues
Ein entscheidender Faktor in dieser Situation ist die Tatsache, dass die türkis-grüne Regierung bislang von keiner starken Opposition herausgefordert wurde. Die SPÖ, die zu Beginn der Pandemie in einer schweren Krise steckte, und der ÖGB sahen endlich wieder die Chance, sich staatstragend zu geben und reihten sich in den nationalen Schulterschluss ein. Und die FPÖ hing nach Ibiza und Wahldebakel noch in den Seilen. Im Parlament hatte die Regierung somit den Rücken weitgehend frei, und die Gewerkschaften rührten keinen Finger, um angesichts der sozialen Krise Widerstand zu organisieren.
Unter diesen politischen Rahmenbedingungen war viel Platz für eine neuartige Protestbewegung. Die Corona-Leugnerszene ist ein sehr heterogenes Phänomen. Die Tatsache, dass von Anfang auch Nazis mit von der Partie waren und mit ihren reaktionären Parolen Einfluss hatten, ist unbestritten, erklärt diese Aufmärsche aber nicht. Der Appell „Mit Nazis demonstriert man nicht“ greift daher auch zu kurz.
Anfangs wurde diese Bewegung oft als Ansammlung von Ausgegrenzten und Abgehängten dargestellt. In Wahrheit dürfte sie sich, und dies belegen auch erste Studien, in erster Linie aus der Mittelschicht rekrutieren. In der Tat bedrohen monatelange Lockdowns und behördlich verordnete Schließungen von Lokalen, Handelsbetrieben, persönlichen Dienstleistern die Existenz unzähliger kleiner Selbständiger. Diese Mittelschichten haben eine ganz eigene Psychologie entwickelt. Sie haben in der Vergangenheit – durchaus durch Selbstausbeutung und noch mehr mit der Ausbeutung einiger Angestellter – einen gewissen Wohlstand erlangt. Den Appell an die „Verantwortung des Individuums“, der die letzten Jahrzehnte getrommelt wurde, haben sie verinnerlicht. Staatliche Regelungen sind aus ihrer Perspektive immer schon mit Kosten und weniger mit unmittelbarem Nutzen verbunden. Persönliche Freiheit und Selbstverantwortung erscheinen ihnen als höchstes Gut.
Doch die Wirklichkeit sieht oft anders aus. Im modernen Kapitalismus ist ihre Freiheit eine relative. Für ihr Lokal zahlen sie meist horrende Mieten, und die Bankkredite wiegen schwer. Diesem Mittelstand ist eine gewisse Spielart der Kapitalismuskritik nicht fremd, die oft gepaart ist mit einer neidischen Feindschaft gegen die Ungleichheit in Gestalt der Superreichen (aber auch gegen die Gleichheit mit ArbeiterInnen). Beim Spruch „Es regiert das Geld“ denkt der kleine Selbständige an „die Finanzelite“, die auch ihn in der Mangel hat, die kaum Steuern zahlt und „too big to fail“ ist, während er kurz vor der Pleite steht. Dass in einem Land, in dem der Antisemitismus eine lange Tradition hat und in den Jahrzehnten des Nachkriegsbooms auch Nischen zum Überwintern fand, absurde Verschwörungstheorien zu wuchern beginnen, ist wenig verwunderlich. In den unreinen Poren der Gesellschaft beginnt es wieder zu eitern.
Angesichts von hoher Arbeitslosigkeit werden diese in ihrer Existenz bedrohten Mittelständler nicht Teil der Arbeiterklasse werden können, ihr sozialer Abstieg wird gerade für viele dieser Menschen zur Realität und frisst jedes Vertrauen in die offiziellen Institutionen auf. Ihre gesellschaftliche Stellung (der Wirt am Kirchplatz, oder die Fitnesstrainerin aus Döbling etwa) reicht aber gerade noch aus, um auch Teile der Arbeiterschaft, die sich von SPÖ und ÖGB schon lange nicht mehr vertreten sehen und die angesichts der jetzigen Krisen auch nicht mehr ein und aus wissen, ideologisch beeinflussen zu können.
Sammelsurium der Irrationalität
Ausgangspunkt ist oft Misstrauen gegen „die da oben“. Das hat einen rationalen und fortschrittlichen Kern: Profit ist im Kapitalismus tatsächlich wichtiger als die Gesundheit, als Klima und Natur, als die Qualität der Lebensmittel usw. Viele ahnen, dass die Medien nicht objektiv berichten, sondern die herrschenden Verhältnisse rechtfertigen. Viele glauben nicht länger, was ihnen Zeitungen und TV vorsetzen. Glaubwürdig ist stattdessen, wer dem Status quo die Stirn bietet.
Die traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung haben dieser kritischen Stimmung keinen Ausdruck gegeben. Da verwundert es nicht, wenn sich dieser fortschrittliche Kern der Ablehnung des Status Quo in sein Gegenteil wandelt und alle möglichen reaktionären Ideologien das Vakuum füllen. Das Sammelsurium an wahnwitzigen Ideen, die auf diesen Corona-Aufmärschen zum Vorschein kommt, zeugt von der Verbreitung irrationaler Ideen in der Gesellschaft: „Zurück zur Natur“-Romantik, Homöopathie, Veganismus, Impfskepsis, Antiautoritarismus, Esoterik, krude Verschwörungstheorien…
Was im Regelfall nur in Privaten kultiviert wird, sucht jetzt auch nach einem politischen Ausdruck. Immer wieder kehrend in den Aussagen der Corona-LeugnerInnen ist eine gewisse Idealisierung der Natur, in die der Mensch nicht eingreifen dürfe. Betont werden die natürlichen Selbstheilungskräfte und die Stärkung des Immunsystems durch Krankheiten. Und sollten diese nicht reichen, dann müsse sich der Mensch eben der Natur fügen. In dieser Haltung steckt sehr viel reaktionärer Kulturpessimismus.
Leo Trotzki schrieb in den 1930ern, der Faschismus habe den Bodensatz der Gesellschaft für die Politik entdeckt. Es ist nicht nur die Landidiotie, die hier das Wort erhebt, inmitten der Wunder der modernen Zivilisation leben Ideen und Traditionen aus längst vergangenen Zeiten weiter – „unerschöpfliche Vorräte an Finsternis, Unwissenheit, Wildheit“. Die extreme Rechte, die selbst immer schon politischer Ausdruck von Verschwörungstheorien war, schwimmt in dieser Szene der Irrationalität wie der Fisch im Wasser und versucht hier die eigenen organisatorischen Strukturen zu stärken. Die Strategie dieser Gruppen dürfte derzeit sein, sich in den Dienst dieser heterogenen Bewegung zu stellen, neue Anhänger zu rekrutieren und der Verzweiflung eine Richtung zu weisen.
Im Kleinen erleben wir hier, was Trotzki über den Aufstieg Hitlers schrieb:
„Die Verzweiflung hat sie auf die Beine gebracht, der Faschismus wies ihnen die Richtung. All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus als Kulturexkrement ausgeschieden werden mußte, kommt jetzt durch den Schlund hoch; die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei. Das ist die Physiologie des Nationalsozialismus.“
Wiederholt sich die Geschichte?
Doch es gilt Augenmaß zu bewahren: Die Querdenker-Bewegung ist von ihrer Schlagkraft natürlich nicht einmal in Ansätzen vergleichbar mit dem historischen Faschismus. Diese Bewegung verfügt weder über Organisation noch Programm. Sie begnügt sich vorerst mit der Rolle der Kritik an den „Mainstream-Medien“, den WissenschaftlerInnen aus der „Mainstream-Medizin“, die dort zu Wort kommen, und an den Maßnahmen der Regierung. Zur Herausbildung eines konkreten Programms (geschweige denn eines Programms zur Bekämpfung der kapitalistischen Krise) wird diese Bewegung nicht fähig sein, das liegt an der zwischen Proletariat und Kapital eingequetschten gesellschaftlichen Position des deklassierten Mittelstands.
Zwar war das beim historischen Nationalsozialismus anfangs nicht viel anders, wie Trotzki es beschrieb:
„Zu Beginn seiner politischen Laufbahn zeichnete sich Hitler vielleicht nur durch größeres Temperament, eine lautere Stimme und selbstsichere geistige Beschränktheit aus. Er brachte in die Bewegung keinerlei fertiges Programm mit…“
Erst langsam verdichteten sich aus dem Wechselspiel zwischen Möchtegern-Führer und Masse das Programm heraus, bis Hitler tatsächlich als „Führer“ anerkannt war.
Es stellt sich die Frage, ob sich die Geschichte so wiederholen könnte. Oberflächliche Analogien helfen uns dabei nicht weiter, wir müssen konkrete Phänomene anhand der realen Perspektiven sehen. Der historische Faschismus war das abschließende Kapitel einer sich ständig nach rechts verschiebenden Reaktion auf eine gescheiterte Revolution, in der die Arbeiterklasse aufgrund der Rolle der Sozialdemokratie nicht imstande war, die Macht zu ergreifen. Der Faschismus begann als Massenbewegung des verzweifelten Kleinbürgertums und diente dann im Sold des Großkapitals als Rammbock gegen die Arbeiterbewegung zur Lösung der Krise im Sinne des Kapitals.
Heute jedoch stehen wir nicht am Ende, sondern am Beginn eines Prozesses, in dem die Arbeiterklasse weltweit in den Ring steigt und den Kapitalismus in Frage stellen wird. Das Kapital setzt auf ganz andere Strategien zur Aufrechterhaltung der derzeitigen Ordnung, nicht zuletzt auf eine Politik des „nationalen Schulterschluss“, also der Einbindung der Führung der Arbeiterorganisationen.
Die Massen erheben sich: Bild eines Generalstreiks in Indien, 2020.
Je länger die Organisationen der Arbeiterbewegung diese Politik mitträgt, desto mehr Spielraum werden reaktionäre Bewegungen finden. Daher: Mit dem nötigen Augenmaß gesehen, ist die Szene der Corona-LeugnerInnen maximal Rekrutierungsfeld für rechtsextreme Sekten und eine Möglichkeit für die FPÖ, sich bei Wahlen wieder zu regenerieren, aber nicht der Embryo eines neuen geschichtsmächtigen Faschismus.
Sobald die Arbeiterbewegung und die Jugend beginnen, sich kollektiv und mit den Methoden des Klassenkampfs (Massendemonstrationen, Streiks,,..) gegen die Krisenfolgen zu wehren, und eine revolutionäre Alternative sichtbar wird, wird das Querdenkertum vom Sturm der Geschichte wie Staub verblasen werden.
(Kurzversion des Artikels in Funke Nr. 191/17.2.2021)