„Vaterlandslose Gesellen“ wurden die SozialdemokratInnen einst geschimpft. Konstantin Korn zeigt, wie aus der revolutionären Sozialdemokratie mit der Zeit eine staatstragende Partei wurde, und wie die Ideologie des nationalen Schulterschlusses zu ihrem Niedergang beitrug.
Die kriegsbefürwortende Haltung der Sozialdemokratie im Sommer 1914 wird in der linken Geschichtsschreibung in der Regel als der entscheidende Verrat an den eigenen Prinzipien bewertet. Und tatsächlich stellte sich in dem Moment, da die Partei mit der Flut der nationalistischen Begeisterung mitschwamm, eine neue Qualität ein. Die revolutionären Ideen vom Hainfelder Parteitag verstummten unter dem Donner der Kanonen. Als die Sozialdemokratie 25 Jahre zuvor in der niederösterreichischen Kleinstadt vereint wurde, war sie eine kleine verfolgte Minderheit von mehrheitlich revolutionären Sozialisten, die weder Illusionen in den bestehenden Obrigkeitsstaat noch in die parlamentarische Demokratie hatte. Ihr Grundsatz lautete fortan „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“, die Budgetvorlagen der Regierung wurden aus Prinzip abgelehnt. Doch schon 1903 wollte die sozialdemokratische Parlamentsfraktion in der Frage des Militarismus eine „positive Politik“ einschlagen, sprich vermeintlich konstruktive Vorschläge zur Verbesserung der Lage einbringen. Damals stieß diese Haltung noch auf Widerstand in den eigenen Reihen. Der führende Kopf der Arbeiterjugendbewegung, Leopold Winarsky, verteidigte damals die ursprüngliche Strategie einer Frontalopposition. Er war der Meinung, im Parlament hätte die Sozialdemokratie nur „von innen heraus die zerstörende Tätigkeit zu ergänzen, die wir von außen her besorgen.“ Dem stand die Idee einer opportunistischen Politik der kleinen Schritte gegenüber, über die der Staat reformiert werden sollte.
Burgfrieden
Die Vertreter der letzteren Richtung waren bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs die klare Mehrheit. Sie verkörperten eine Schicht von Berufspolitikern, Mandataren, Hauptamtlichen, Redakteuren an der Spitze der zur Massenbewegung gewordenen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften, die mittlerweile nicht nur für, sondern auch von der Bewegung lebte. Der Erhalt dieser starken Organisationen, die ihnen Einkommen, Prestige und Lebensperspektive boten, war ihnen oberstes Gebot. Der angesichts der diktatorischen Verhältnisse aussichtslose Widerstand gegen die Kriegsmaschinerie hätte die mit großen Opfern errichteten Organisationen der Arbeiterbewegung hingegen gefährdet. Die Logik der Verteidigung von Errungenschaften sollte die Kompromissbereitschaft der Sozialdemokratie immer wieder erhöhen.
Kurz vor Ausbruch des Krieges hatten die Habsburger in einem Staatsstreich eine „Kriegsdiktatur“ errichtet. Justiz und Wirtschaft wurden unter militärische Kontrolle gestellt und verfassungsmäßige Grundrechte wie die Presse- und Versammlungsfreiheit aufgehoben, womit eine legale politische Betätigung stark eingeschränkt war. Die Arbeiterbewegung behielt jedoch einige ihrer Funktionen, vor allem jene Organisationsbereiche, wie die Konsumvereine und die Gewerkschaften, die auch eine materielle Unterstützungsfunktion für ihre Mitglieder hatten. Sofern sie den „Burgfrieden“ einhielt, konnte sie also weiter tätig bleiben. Otto Bauer argumentierte, dass man für die Zeit des Krieges auf politische Abstinenz setzen und auf bessere Zeiten warten solle. Ihm schien nichts anderes übrig zu bleiben, als an die Parteitreue der ArbeiterInnen zu appellieren. Die Sozialdemokratie verzeichnete massive Mitgliedereinbrüche.
Kooperation mit dem Staatsapparat
Die in den ersten Kriegsmonaten schwer erschütterten Arbeiterorganisationen begannen sich ab 1915/16 wieder langsam zu erholen. Ein wichtiges Element war die Organisierung konkreter Hilfe für hungernde, proletarische Familien, die unter der sozialen Not besonders litten. Ausspeisungen oder Kinderfürsorge waren Bereiche, wo die GenossInnen (meist Frauen) wieder neue Mitglieder gewinnen konnten. In zunehmendem Maße erhielt die Sozialdemokratie für diese Aktivitäten auch finanzielle Mittel vonseiten des Staates, dem die Einbindung der Arbeiterorganisationen auf diesen Gebieten nützlich erschien.
Der Erfolg der neuen Ausrichtung hatte einen hohen politischen Preis: Die einst scharfe Abgrenzung vom politischen Gegner und den Institutionen der Regierung und der Militärverwaltung ging verloren. Die Kooperation mit den staatlichen Behörden erkaufte man sich mit dem Verzicht auf eine klassenkämpferische Oppositionspolitik. Die Parteiführung sorgte sogar dafür, dass in den eigenen Reihen keine antimilitaristische Opposition Fuß fassen konnte.
Besonders deutlich wurde dieser neue Kurs in den Gewerkschaften. In einem Aufruf an die Mitglieder blickte man, während unzählige Gewerkschaftsmitglieder in den Schützengräben starben, optimistisch in die Zukunft, „weil insbesondere die Gewerkschaften in derart ernsten Zeiten, wie es die gegenwärtigen sind, eine Reihe von Aufgaben erfüllen, die sie in nicht zu verachtendem Umfang der Staatsverwaltung abnehmen.“ Wenige Zeilen später räumte die Gewerkschaftsführung jedoch ein, dass es unter den konkreten Umständen notwendig sei, Lohnbewegungen zu unterlassen.
Diese Kooperation mit dem habsburgischen „Regime des Verfassungsbruches“ wurde so intensiv, dass bei Ausbruch des großen Generalstreiks im Jänner 1918 die sozialdemokratische Parteispitze mit der Regierung eng zusammenwirkte, um diesen revolutionären Massenstreik abzudrehen. Maifeiern und andere politische Versammlungen organisierte die Partei erst, als die Regierung ihre Abhaltung als sinnvoll erachtete und genehmigte, weil sich das Regime angesichts der gesteigerten Arbeitermilitanz gezwungen sah, Sicherheitsventile zu öffnen.
Demokratische Illusionen
Die Sozialdemokratie glaubte die demokratische Republik für einen schrittweisen Übergang zum Sozialismus nutzen zu können. Bild: Zvacek
Erst mit dem Zerfall der Monarchie und angesichts einer erneuten revolutionären Krise im Herbst 1918 erzwingt die Sozialdemokratie eine demokratische Republik – während sie gleichzeitig alles unternimmt, eine Radikalisierung des Prozesses hin zu einer sozialistischen Revolution nach russischem Vorbild zu verhindern. Die Sozialdemokratie ist de facto die einzige politische Kraft, die mit Überzeugung hinter der neuen Republik und der parlamentarischen Demokratie steht. Als Staatspartei hatte man sich schon viel länger gesehen, doch nun glaubte man mit der Republik einen Staat zu haben, den man für den schrittweisen Übergang der Gesellschaft hin zum Sozialismus nutzen könnte.
Doch wer den Kapitalismus akzeptiert, muss auch seine ökonomischen Gesetze akzeptieren. In den tiefen Wirtschaftskrisen Anfang der 1920er Jahre und dann erneut in der Großen Depression ab 1929 entschied sich die austromarxistische Führung der Sozialdemokratie daher, auch als Oppositionspartei harte Sparpakete mitzutragen, um den Staatsbankrott abzuwenden. Otto Bauer argumentierte damals für eine Klassenzusammenarbeit zur Stabilisierung der Wirtschaft. Wie Käthe Leichter betonte, hatte die mit Unterstützung der Sozialdemokratie erfolgte „Genfer Sanierung“ das „Machtbewusstsein der Bourgeoisie gestärkt und ihre Machtmittel vergrößert“, was zu einer offen reaktionären Offensive der Bürgerlichen führte.
Auch zu Beginn der 1930er Jahre propagierte Bauer eine Politik der Kompromisse mit den Bürgerlichen, weil man sich durch eine scharfe Oppositionspolitik nur isolieren und den Gegner noch aggressiver machen würde. Doch selbst die ausgeprägte Kompromissbereitschaft des Austromarxismus, einen nationalen Schulterschluss zur Lösung der Krise einzugehen und in letzter Instanz sogar eine ständestaatliche Verfassung zu akzeptieren, konnte die Bürgerlichen nicht davon abhalten, die Demokratie schrittweise zu beseitigen und die Arbeiterbewegung zu zerschlagen.
Im Nachfebruar 1934 widerstrebte die Idee eines nationalen Schulterschlusses mit den austrofaschistischen Arbeitermördern dem Bewusstsein der Massen. Die aktiven Teile der nun in der Illegalität operierenden Arbeiterbewegung entwickelten erneut eine revolutionäre Perspektive. Doch unter der nationalsozialistischen Diktatur war die Untergrundbewegung in ihrer Existenz gefährdet und ihre führenden Kader mussten ins Exil flüchten. Dort gerieten die meisten Revolutionären SozialistInnen wieder unter den ideologischen Einfluss des Reformismus. Klassenkompromiss und nationaler Schulterschluss zur Bewältigung von Krisen wurden zu Eckpfeilern dieser Ideologie.
Sozialpartnerschaft und Niedergang
Mit dem Sturz des nationalsozialistischen Horrors und dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1945 lag Österreich in Schutt und Asche. Noch während der letzten Kriegstage wurden die SPÖ und die Gewerkschaften wiedergegründet. Die zentrale Frage damals war, welchen Charakter der neue Staat haben sollte und auf welcher Grundlage der wirtschaftliche Wiederaufbau erfolgen sollte.
In der Arbeiterbewegung setzten sich damals mit Unterstützung der Alliierten diejenigen Kräfte durch, die den Kapitalismus wiederaufbauen wollten und dabei auf eine Zusammenarbeit mit den Bürgerlichen und ihrer Partei der ÖVP setzten. Diese Neuauflage des nationalen Schulterschlusses, der bald schon auf die ehemaligen Nazis erweitert wurde, konnte in der SPÖ und im ÖGB nur durchgesetzt werden, indem die Linke bürokratisch mundtot gemacht und die innerorganisatorische Demokratie auf einen reinen Formalismus reduziert wurde.
Spätestens mit der Niederschlagung des Oktoberstreiks 1950 wurde die Sozialpartnerschaftsideologie in der Arbeiterbewegung durch harte bürokratische Methoden (massenweise Partei- und Gewerkschaftsausschlüsse, Aussperrungen aus Betrieben, Entdemokratisierung des Betriebsrätewesens,…) durchgesetzt. Die Folge war eine fast völlige Entpolitisierung der Bewegung.
Nach Jahrzehnten der Sozialpartnerschaft steht die Arbeiterklasse heute politisch weitgehend entwaffnet da, und obwohl sie zahlenmäßig enorm angewachsen ist, hat sich das politische Kräfteverhältnis massiv zugunsten der Bürgerlichen verschoben. In Zeiten katastrophaler Krisen, wie wir sie 2009 hatten und wie wir sie heute erleben, sieht sich das Kapital dennoch gezwungen die Gewerkschaften ins Boot zu holen, damit diese der Krisenverwaltung Flankendeckung geben.
Und die Spitzen des ÖGB und der SPÖ wünschen nichts mehr, als in den Krisenstäben zumindest eine Nebenrolle zu spielen. Diese Logik ist tief eingeschrieben in die DNA der österreichischen Sozialdemokratie. Die Konsequenz dieser Politik der Bankenrettungspakete und der Spardiktate war der Absturz der SPÖ auf einen historischen Tiefstwert nach dem anderen und eine völlige Erosion ihrer organisatorischen Strukturen. Mit der Neuauflage der Ideologie des nationalen Schulterschlusses in der aktuellen Krise, der tiefsten Krise des Kapitalismus, wird dieser Niedergang nur noch mehr beschleunigt. In dieser Situation ist der einzige Ausweg aus dieser Krise eine Rückbesinnung der Arbeiterbewegung auf ihre sozialistischen, ihre klassenkämpferischen und revolutionären Wurzeln.
(Funke Nr. 183/27.4.2020)
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