Warum die Neutralität nie eine war. Konstantin Korn über den Werdegang eines illusorischen Konzeptes.
In Reaktion auf den Ukraine-krieg fordert die ÖVP-Verteidigungsministerin einen „Neutralitätsfonds“, sprich deutlich mehr Geld für das Bundesheer. Das Heeresbudget will sie auf rund 6 Mrd. € mehr als verdoppeln. Der noch amtierende Generalstabschef Brieger legt eins nach: Er will in der Verfassung die Verpflichtung zur Aufrüstung festschreiben. Ab Juni übernimmt Brieger den Vorsitz des Militärausschusses der EU (EUMC), der für die Leitung von Militäreinsätzen in Somalia, der Zentralafrikanischen Republik und bis vor kurzem in Mali zuständig ist.
Zwar gab es seit Kriegsausbruch in der Ukraine wieder vereinzelte Vorstöße in Richtung NATO-Beitritt, doch im Großen und Ganzen kann das bürgerliche Lager in Österreich ganz gut mit dem Konzept der „immerwährenden Neutralität“. Kein Wunder, existiert diese ohnedies nur auf dem Papier und hindert Österreich nicht an einer – wenngleich relativ kleinformatigen – imperialistischen Außenpolitik vor allem in Osteuropa und auf dem Balkan.
Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Etablierung einer neuen, vom westlichen Imperialismus dominierten Weltordnung eröffneten sich für die österreichische Bourgeoisie Möglichkeiten. Die Mitgliedschaft in der EU, die sich auch um eine gemeinsame Militärpolitik bemüht, verlieh der Außenpolitik eine neue Qualität. Seit 2004 sind österreichische Soldaten als Teil der EU-Truppen in Bosnien stationiert. Zuletzt winkte Österreich auf EU-Ebene die Verwendung von Steuergeld für Waffenlieferungen an die Ukraine durch, und ab 2025 soll eine neue Eingreiftruppe aufgebaut werden, die See- und Luftstreitkräfte umfasst. Für die Verteidigungsministerin ist das mit der Neutralität gut vereinbar.
Aber auch die Beziehungen zur NATO wurden seit Mitte der 1990er Jahre vertieft. Das Bundesheer beteiligt sich an der „Partnerschaft für den Frieden“ der NATO, die auf österreichischem Gebiet bereits Truppenübungen abgehalten hat. Im Kosovo sind derzeit österreichische Soldaten unter NATO-Führung stationiert.
All das zeigt, dass die Neutralität eine leere Worthülle ist, die von den Bundesregierungen der letzten 30 Jahre mit einer offen imperialistischen Politik (einschließlich einer militärischen Komponente) gefüllt wurde.
Unterordnung unter das Kapital
Bis heute beziehen sich Sozialdemokratie und KPÖ positiv auf die Neutralität. Die Geschichte aber zeigt: Das Konzept der Neutralität ist Ausdruck der Unterordnung der österreichischen Arbeiterbewegung unter Kapitalinteressen und Ausdruck ihrer Bejahung des bürgerlichen Staates.
Der Großteil der Bevölkerung spricht sich für die Neutralität aus, weil sie als Garant gegen eine direkte Kriegsbeteiligung Österreichs gilt. Ein NATO-Beitritt oder die Teilnahme an einer voll ausgebauten EU-Armee würde außerdem Unsummen verschlingen, während dieses Geld im Gesundheits- oder im Bildungssystem fehlt.
Auch wir lehnen alle Schritte der Regierung ab, das Bundesheer aufzurüsten und sich über die Hintertür an Militärbündnissen zu beteiligen. Waffentransporte oder Flüge von NATO-Militärjets über österreichischem Luftraum lehnen wir genauso ab wie gemeinsame Truppenübungen mit der NATO. Wir fordern den sofortigen Ausstieg Österreichs aus allen internationalen Truppeneinsätzen, egal ob unter EU-, NATO- oder UNO-Fahne.
In all diesen Punkten sind wir für eine Aktionseinheit mit linken Neutralitätsbefürwortern. Aber wir lehnen die irreführende Forderung nach einer „echten Neutralität“ ab, wie sie die SJ, die KPÖ oder die Jungen Linken erheben.
In der Praxis führt das Festhalten am Mythos der Neutralität zur Aufgabe einer von der herrschenden Klasse unabhängigen Politik. Deutlich wird dies, wenn die steirische KPÖ den Vorschlag von Kanzler Nehammer unterstützt, Wien könnte „zum Ort für Verhandlungen über ein Ende des Krieges in der Ukraine und für die Wiederherstellung einer Friedensordnung in Europa werden“. Die Aufgabe von SozialistInnen und KommunistInnen besteht aber nicht darin, Illusionen in die Politik der Regierung zu schüren, sondern darin, die imperialistischen Interessen des österreichischen Kapitalismus hervorzukehren. Wenn es profitabel ist, wird Österreichs Bourgeoisie versuchen Kriege zu führen, außer die Arbeiterklasse hält sie davon ab.
Nachkriegsordnung & Neutralität
Als noch die letzten Schlachten des Zweiten Weltkriegs tobten, erklärten im April 1945 die SPÖ, die ÖVP und die KPÖ gemeinsam die Unabhängigkeit Österreichs. Alle drei Parteien bekannten sich zur Wiedererrichtung der Republik auf einer kapitalistischen Grundlage. Die Teilung Europas in eine sowjetische und eine US-amerikanische Einflusssphäre war schon zwei Jahre zuvor festgeschrieben worden, und die Arbeiterparteien in ganz Europa ordneten sich dieser Vorgabe aus Moskau und Washington unter. Für Österreich war die Rolle eines „Pufferstaates“ vorgesehen. Doch in der Praxis drängte die USA schon vor Ausbruch des Kalten Krieges vehement auf eine Eingliederung Österreichs in den Westen. ÖVP und SPÖ adaptierten diese politische Linie.
Die Idee eines „neutralen Österreichs“ kam von Bundespräsident Karl Renner, wurde aber rasch von den Linken in der SPÖ aufgegriffen. Sie wollten damit die „einseitige Orientierung [der ÖVP] auf den amerikanischen Kapitalismus“ stoppen und sahen so die Möglichkeit einer freundschaftlichen Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion. Aus demselben Grund befürwortete auch die KPÖ die Neutralität.
1955 stimmte Moskau dem Staatsvertrag und dem Ende der Besatzung unter der Bedingung zu, dass sich Österreich zur Neutralität bekennt. Österreich werde „in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen“.
Diese Sonderstellung wusste Österreich geschickt zu nutzen. 1968 unterzeichnete die ÖVP-Alleinregierung erste Gaslieferverträge mit der UdSSR. Die verstaatlichte Industrie knüpfte enge Wirtschaftsbeziehungen nach Osteuropa, wobei der politisch mittlerweile unbedeutenden KPÖ die Rolle eines (gut entlohnten) Vermittlers zufiel. Unter Kanzler Bruno Kreisky wurde eine „aktive Neutralitätspolitik“ entwickelt, mit dem Österreich vor allem im Nahostkonflikt vermittelte und sich auf diesem Weg lukrative Geschäfte mit der arabischen Welt sicherte. Die Etablierung Wiens als Standort von UNO, OSZE und OPEC ist auf diese Außenpolitik zurückzuführen.
(Funke Nr. 203/22.4.2022)