Selbst 120 Jahre nach seiner Geburt ist Bertolt Brecht, der deutsche Schriftsteller und Dramaturg, weiterhin auf den internationalen Bühnen präsent. Sein Berliner Ensemble lässt seinen revolutionären Schrei durch unsere Zeit widerhallen.

Eine anarchische Gewalt

«Der schlimmste Analphabet ist der politische Analphabet. Er hört nicht, spricht nicht, und nimmt nicht an den politischen Ereignissen teil. Er weiss nicht, dass die Kosten des Lebens, der Preis der Bohnen, des Fisches, des Mehls, der Miete, des Schuhes und des Medikamentes von politischen Entscheidungen abhängen. Der politische Analphabet ist so dumm, dass er stolz ist und sich in die Brust wirft um zu sagen, dass er Politik hasst.
Der Schwachsinnige weiss es nicht, dass aus seiner politischen Ignoranz die Prostitution, der verlassene Minderjährige, der Räuber und der schlimmste von allen Verbrechern – der politische Betrüger, korrupt, Lakai der nationalen und multinationalen Unternehmen resultieren.»

Dieser berühmte Text von Brecht erscheint als eine Form des Protests, welche er den Zuschauern in jedem seiner Theaterstücke entgegenwirft. Er will kein apolitisches Publikum. Seine Empörung und Wut soll von ihnen nachempfunden und geteilt werden. Sein erster Protagonist «Baal», seinem gleichnamigen Stück aus 1918 entstammend, erscheint wie ein Spiegelbild des Autors selbst. Der wilde Künstler lebt blasphemisch, lehnt die Konventionen der kapitalistischen Welt ab und die bürgerliche Gesellschaft erfüllt ihn mit Abscheu. Ihren Niedergang lebt er mit anarchischer Gewalt. Baal ist der junge Brecht; Zornerfüllt durch den Krieg und geprägt von der Instabilität und des Elends der Weimarer Republik, exponiert er in seiner Kunst die Ungerechtigkeiten und systemischen Probleme der Gesellschaft.

Brecht, der Sohn einer bayrischen Grossbürgerfamilie, war ein immerwährender Revolutionär. Wie Baal negiert er seine bourgeoisen Wurzeln und zieht nach Kriegsende nach Berlin, um seine Karriere als Dramaturg und Regisseur voranzutreiben. Durch sein gemeinsames Wirken mit Szenengrössen wie Erwin Piscator, John Heartfield und Hannes Eisler – allesamt Kommunisten – und seiner engen Verbindung mit der linken Politik entdeckt er die marxistischen Theorien. Diese haben einen grossen Einfluss auf Brecht und inspirieren ihn zu seiner Reform des Theaters.
Das Theater negiert sich als Theater

Brecht nimmt das Theater nie als gegeben an. Er wählt jeweils eine progressive Herangehensweise, in welcher die theatralischen Formen auf das Bewusstsein und die gesellschaftlichen Notwendigkeiten reagieren. Der überwiegende Teil seiner Werke behandelt die Welt der Klandestinität oder der kleinen Leute. Er fokussiert auf die Art und Weise, in welcher der Kapitalismus die Moral und die menschlichen Beziehungen diktiert; Es ist ein verelendes System, welche die Mehrheit der Bevölkerung in ihrer Suche nach Glück einschränkt.

Das brechtsche Theater durchläuft mehrere politische und künstlerische Phasen. Seine ersten Jahre weisen einen anarchistischen Teint auf und werden durch den Grosserfolg der «Dreigroschenoper» (1928) gekrönt. Mit diesem für ein bürgerliches Publikum konzipierten Werk beginnt Brecht seine Erforschung des epischen Theaters und tritt in ein neues Verhältnis zu seinen ZuschauerInnen. Brecht wählt die Form der Opera, der Ikone des bourgeoisen Theaters, um ebendieses zu kritisieren und in eine Parodie seiner selbst zu verwandeln – so wird die Kunstform zu ihrer eigenen Negation.

Wie in Baal übernimmt Brecht Elemente des bürgerlichen Theaters und schneidert sie für seine eigenen Zwecke zurecht. Die «Dreigroschenoper» versucht die herrschende Theaterform zuerst greifbar zu machen, um sie danach zu kritisieren. «Dieser Apparat toleriert nur, was die Gesellschaft braucht, um sich selber zu reproduzieren. Statt eines Werkzeugs für die Erschaffer ist es eines gegen sie und ihre Schöpfung», kritisiert Bertolt Brecht.

Das institutionelle Theater dient also nur der Festigung der herrschenden Klasse, indem es deren Bedürfnisse erfüllt: simple Unterhaltung, welche die Machtverhältnisse nicht hinterfragt.

Von der Wut zur Didaktik

Das Theater wie das Kino, und überhaupt alle populäre Kunstformen, dienen zu dieser Zeit vorwiegend jenem Zweck: der Unterhaltung. Brecht spricht sich von Anfang an dezidiert gegen diese Ausrichtung aus. Seine Bühnenkunst will das kritische Denken des Publikums herausfordern und es zum Handeln animieren – ganz im Gegensatz zum klassischen Theater des Aristoteles. Der griechische Philosoph will sein Auditorium auf emotionaler Basis in die Handlung einbinden, es von negativen Gedanken befreien und mittels dramatischen Effekten eine Flucht aus dem Alltag ermöglichen.

Das epische Theater von Brecht hingegen, bricht mit dieser Tradition. Das Publikum soll wissen, dass es sich in einem Schauspiel befindet und die Handlung blosse Konstruktion ist. Seine Werke verlangen nach einer fortwährenden Auseinandersetzung mit der Realität, bis man sich in einem dialektischen Verhältnis zum Theaterstück wiederfindet. Die Situationen und Darsteller beziehen sich auf eine objektive Realität, welche es zu erfassen gilt. Die Figur Pelagea Wlassowa («Die Mutter») wird durch ihre Welt erschaffen, erschafft aber auch ihre eigene.

Die einem Roman von Maxim Gorki entstammende Figur Wlassowa leidet elendig unter den kapitalistischen Bedingungen, wird aber schlussendlich zu einer revolutionären Kommunistin. Mittels eines Bildungsprozesses verändert sie sich, indem sie die Gesellschaft verändert. Das ist die brecht’sche Intention: aufzeigen wie ein solcher Konflikt in einer aus den Rudern gelaufenen Realität entsteht. Es ist eine Überlagerung von sich widersprechenden Situationen, die zu einer individuellen Bewusstseinsänderung führt, welche sich kollektiv weiterentwickelt und in einer gemeinsamen Aktion mündet – so entsteht gesellschaftlicher Fortschritt.

Dramaturgische Dialektik

Das epische Theater will sein Publikum revolutionieren, es provozieren und zu einer politischen Tat inspirieren. Um dies zu erreichen, werden mehrere «Verfremdungseffekte» angewendet. Die Stücke sollen ständig daran erinnern, dass sie blosses Schauspiel sind. Brecht konstruiert seine Werke so, dass die Abfolge von Gesang, Erzählung, Handlung und anderen Techniken ständig mit der dramaturgischen Kontinuität brechen und das Publikum stets in einer kritischen Distanz zum Stück hält. Parallel zur Handlung findet ein Kommentar statt, der sowohl erklärend als auch ironisch ist. Der Realitätsbezug wird jederzeit hervorgehoben, bei den Schauspielern wie beim Publikum.

Mit dem durchschlagenden Erfolg des realistischen Theaters sowie der Unterhaltungsindustrie, bleibt die brecht’sche Schauspielerei revolutionär. Seine Werke werden weltweit aufgeführt, bleiben jedoch von der Kunstmechanik der Alltagsflucht nicht unberührt: Seine Lieder werden oft um ihre kritische Funktion erleichtert, um den Vorgaben der Vergnügungsindustrie gerecht zu werden. Das künstlerische Erbe von Brecht bleibt nichtsdestotrotz unvergessen und das Bedürfnis nach einer subversiven Kunst, welche das herrschende System hinterfragt, ist grösser denn je.


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