Buchvorstellung. Ilse Barea-Kulcsar (geb. Pollak) war Sozialistin in der Zwischenkriegszeit und floh 1934 nach England. Dort verfasste sie nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Kulturgeschichte über Wien, die nun ins Deutsche übersetzt vorliegt. Julia Brandstätter und Gernot Trausmuth haben dieses Buch zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt, wir haben sie zum Buch befragt.
- 464 Seiten, 38€.
- Erschienen: Sept. 2021
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Ilse Barea-Kulcsar (geb. Pollak) engagierte sich schon in ihren Jugendjahren in der sozialistischen Jugendbewegung, wo sie sich für den Anschluss an die neugegründete Kommunistische Internationale stark machte.
Später schloss sie sich der KPÖ an, wo sie ihren ersten Ehemann Leopold Kulcsar kennenlernte. Bald nach ihrem Parteiausschluss trat sie wieder in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) ein, schrieb für die sozialdemokratische Presse und wirkte als Wanderlehrerin. Das Ehepaar Kulcsar erkannte bereits im Dämmergrau des Faschismus, dass eine politische und strukturelle Reorganisation der Sozialdemokratie notwendig sein würde, um in der Illegalität zu bestehen.
Daher forcierten sie ab 1933 die Schulung und Vorbereitung einzelner Parteimitglieder auf die Zeit des Austrofaschismus und Nationalsozialismus und gründeten die Gruppe „Funke“, die sich am leninistischen Parteikonzept orientierte. 1934 müssen sie fliehen – zunächst in die Tschechoslowakei, dann nach Spanien, wo Ilse Barea-Kulcsar ihren zweiten Ehemann, Arturo Barea, kennenlernte.
Über Frankreich emigrierten sie nach England, wo Ilse nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Kulturgeschichte „Wien – Legende & Wirklichkeit“ verfasste.
Funke: Die Autorin war Marxistin. Wie wirkt sich das auf ihr Wien-Buch aus?
Der historische Materialismus bildet das methodische Fundament des Buches, das – obwohl es chronologisch aufgebaut ist – keine bloße Epochengeschichte oder Aneinanderreihung von den „großen Männern“ in Politik und Kultur ist. Die zentralen Figuren des gesellschaftlichen Lebens bettet sie immer in ihren historischen Kontext ein, in die sozialen Rahmenbedingungen, die ihr Schaffen zugleich ermöglichten und beschränkten. Damit macht sie – auch explizit – die sozialen Träger des kulturellen Wandels sichtbar. Metternich, Grillparzer, Nestroy oder Schnitzler werden stellvertretend für gewisse Strömungen im politischen und geistigen Leben der Stadt porträtiert.
Vor diesem Hintergrund hebt sich die Arbeit von jener Kulturgeschichtsschreibung ab, die sich spätestens seit den 1990er Jahren mit dem Aufkommen der „Postmoderne“ durchsetzte. Nicht Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, Werte und symbolische Formen des kulturellen Lebens stehen im Vordergrund, sondern die gesellschaftliche Entwicklung und die materiellen Lebensbedingungen, die gewisse Kulturerscheinungen hervorbringen.
Die ÜbersetzerInnen bei der neuen Erinnerungstafel für Barea im 10. Wiener Gemeindebezirk, 2021
F.: Wien ist bekannt für eine Kultur, die hauptsächlich vom Adel und später dem Bürgertum getragen wurde: Von den Barockpalais über das Biedermeier bis zur Ringstraßen-Ära. Wie wirken diese Traditionen heute nach?
Wien erlangte seine Stellung als Hauptstadt eigentlich erst im Zuge der Gegenreformation. In der frühen Neuzeit begehrte das Bürgertum wie in vielen anderen Städten Europas gegen die überkommene feudale Ordnung auf. Der Protestantismus war unter den Wiener BürgerInnen stark verankert. Doch mit der Rekatholisierung Wiens durch die Habsburger wurde dem Wiener Bürgertum dieses rebellische Element ausgetrieben. Diese historische Niederlage formte über Jahrhunderte die Psychologie der bürgerlichen Schichten in Wien. Die prunkvollen Barockpalais, die die Innere Stadt architektonisch bis heute prägen und wichtige repräsentative Gebäude auch des modernen Österreich darstellen, symbolisieren diese Dominanz des Adels und seiner Weltanschauung.
Das Bürgertum hat sich auch nach der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse nie wirklich aus der Unterordnung durch die Aristokratie und das Kaiserhaus emanzipieren können. Die Aufklärung war in Wien ein Minderheitenphänomen, auch wenn diese josephinische Tradition bis ins 19. Jahrhundert weiter- bzw. den rigiden Polizeistaat des Vormärz überlebte.
Die Person des Franz Grillparzer, der als der große Dichter Wiens gilt, kann aber als Paradebeispiel für das Schwanken zwischen Loyalität und Rebellion herangezogen werden – das Bürgertum wagte trotz aller Kritik an den herrschenden Verhältnissen nie den offenen Konflikt. Selbst in der Revolution von 1848, die sich die von ihm selbst herbeigesehnten Freiheitsrechte auf die Fahnen schrieb, blieb er ein zynischer Beobachter und schwieg.
Die Niederlage der Revolution von 1848 und das erstmalige Auftreten des Proletariats nahm dem Bürgertum die letzten Reste von Mut. Mit wenigen Ausnahmen war es daher auch stets eine konservative Kraft, die die „gute, alte Zeit“ beschwor. Die wenigen Liberalen versuchten in Nischen zu überleben, indem sie sich anpassten. Diese Haltung wirkt bis heute nach.
F.: Können in der Kulturgeschichte der Hauptstadt auch widerständige Traditionslinien entdeckt werden?
Als Sozialistin interessierte sich Ilse Barea-Kulcsar nicht nur für die aristokratische oder bürgerliche „Hochkultur“. In ihrem Buch legt sie auch Gegenkulturen und widerständige Traditionen offen, die von den Legenden oft überdeckt werden. Damit liefert das Buch auch Ansätze für eine Kulturgeschichte „von unten“.
Im Bürgertum waren die revolutionären Traditionen meist nur als Minderheitenströmung präsent, auch wenn einzelne Künstler durchaus von den Idealen der bürgerlichen Revolution angetrieben wurden. Der berühmteste Fall ist wohl Beethoven, der mit seiner Oper „Fidelio“ dem Streben nach Befreiung aus der Unterdrückung ein musikalisches Denkmal setzte und zumindest im zweiten Anlauf damit in Wien auch Erfolg hatte. Die antiklerikale Haltung des Kreises um Franz Schubert zeigt, dass selbst im Biedermeier ein zartes Pflänzchen von Freiheitssinn weiterlebte.
Doch erst die Revolution von 1848 brachte Künstler hervor, die offen Partei für den Freiheitskampf ergriffen. Keiner äußerte sich so scharfzüngig wie der Dramatiker Nestroy, der am Opportunismus der Wiener BürgerInnen kein gutes Haar ließ und in den Proletariern „geborene Revolutionäre“ sah. Er identifizierte sich mit den ArbeiterInnen auch noch, als die Reaktion bereits gesiegt hatte und der junge Kaiser Franz Joseph den Thron bekleidete. Sein musikalisches Pendant war Johann Strauss Sohn, der als Kapellmeister der Nationalgarde im Oktober 1848 mit seinen mitreißenden Melodien die Barrikadenkämpfer anspornte. Dass Ilse Barea-Kulcsar die revolutionäre Tradition ab 1848 jedoch in erster Linie von der Arbeiterklasse verkörpert sieht, zeigt sich im Schlusskapitel mit dem Titel „Bauvolk der kommenden Welt“.
(Funke Nr. 198/5.11.2021)