Korruption, Überausbeutung, tote Gastarbeiter und Menschenrechtsverletzungen haben die heurige Fußball-WM überschattet und für heftige Debatten gesorgt. Julian Innerhofer über die Proteste gegen die FIFA und das Regime in Katar.
Schon seit Jahrzehnten hat eine Fußball-Weltmeisterschaft der Männer die Masse der Fans nicht mehr so kalt gelassen wie das Turnier im kleinen Wüstenstaat Katar. So sahen in Deutschland das erste Spiel der eigenen Mannschaft nur 9,23 Mio. ZuschauerInnen, im Vergleich zu 25,97 Mio. 2018. Der bisherige Tiefpunkt war 1,16 Mio. vs. 8 Mio. als absoluter Tiefpunkt 2018.
Boykotte
Die organisierte Fanszene in Europa hat sogar zum Boykott der WM aufgerufen. Diese Boykottaufrufe und die mittlerweile auch sehr kritische Medienberichterstattung über den Katar und die Politik der FIFA haben auch bei vielen unorganisierten Fans Wirkung gezeigt.
Im Aufruf der größten Vereinigung der Boykottbewegung in Deutschland wird der Boykott mit den unwürdigen Bedingungen der Gastarbeiter, der Unterdrückung von Frauen und LGBTIQ+-Personen, der mangelnden Fußballkultur in Katar (und somit auch der nicht vorhandenen Nachhaltigkeit der Stadien, die großteils nach dem Turnier zurückgebaut oder ganz abgebaut werden), der Tatsache, dass die WM aus kommerziellen, und nicht sportlichen Erwägungen an Katar vergeben wurde, dem diktatorischen Regime in Katar, sowie den Korruptionsvorwürfen im Rahmen des Vergabeverfahrens begründet.
Es handelt sich dabei um einen Konsumboykott: keine Reisen nach Katar, keine Public Viewings, kein Konsum von Produkten mit WM-Logo sowie von großen FIFA-Sponsoren. Viele, die zum Boykott aufrufen, weigern sich auch, die WM im Fernsehen anzuschauen, da die wichtigsten Einnahmen der FIFA direkt oder indirekt mit den Fernsehquoten zusammenhängen (Fernsehgelder sowie Einnahmen durch Sponsoren).
Viele Fanklubs kritisieren seit langem schon die Kommerzialisierung des Fußballs, und gerade in Bezug auf die Praxis der FIFA gibt es seit Jahren heftige Kritik. Die Vergabe der WM an Katar war aber für viele eine Grenzüberschreitung. In Europa war der Druck sehr groß, dass die Spieler ein Zeichen setzen und die Bühne für Kritik an den Zuständen in Katar nutzen. Tatsächlich gab es den Plan von acht Nationalmannschaften (inkl. Deutschland), dass die Kapitäne mit "One-Love"-Armbinden auflaufen, um gegen die starke Repression gegen LGBTIQ+ Personen zu protestieren. Sexuelle Handlungen unter gelichgeschlechtlichen Personen werden in Katar mit bis zu 7 Jahren Haft bestraft, Muslimen droht sogar die Todesstrafe. Nachdem die FIFA mit Gelben Karten und bei Wiederholung sogar mit Ausschlüssen gedroht hatte, machten jedoch alle beteiligten Mannschaften einen Rückzieher. Somit ist sogar diese rein symbolische Aktion gescheitert.
Ausbeutung
Mehr Mut zeigten jene Arbeiter, die im August gegen die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen auf den WM-Baustellen protestierten. Gastarbeiter machen über 90% der Bevölkerung in Katar aus. Sie sind durch das sogenannte Kafala-System an ihren Arbeitgeber gebunden. Sie haben kein Recht auf Kündigung, teilweise nicht einmal auf Heimreise. Zudem müssen die Gastarbeiter bis zu 4.000€ für die Einreise und Vermittlung zahlen, was oft mehr als einem Jahresgehalt entspricht, da die Löhne sehr niedrig sind (beim Bau des Al-Wakrah-Stadions umgerechnet 158€ im Monat laut dem Internationalen Gewerkschaftsbund). Offiziell wurde das Kafala-System zwar wegen der Diskussionen im Zuge der WM abgeschafft, praktisch dürfte diese Maßnahme jedoch großteils wirkungslos sein. Arbeitszeiten von bis zu 10 Stunden, fehlende Pausen und Temperaturen von bis zu 50 °C im Sommer führten dazu, dass seit der WM-Vergabe 2010 und 2020 über 6.500 Gastarbeiter starben, viele davon beim Bau von Stadien und anderer für die WM errichteter Infrastruktur, laut Amnesty International sogar über 15.000 zwischen 2010 und 2019. Beide Zahlen sind höher als die Zahl der Spielminuten während der WM (selbst wenn man die langen Nachspielzeiten mitrechnet!).
Fazit
Es ist durchaus möglich, dass die FIFA auf die Boykottkampagne und die öffentlichen Proteste reagieren muss und die Vergabe an autokratische Staaten, in denen die Menschenrechte so offensichtlich wie in Katar missachtet werden, künftig verhindern werden kann. Zu wichtig ist noch immer der europäische Markt.
Eine saubere Organisation wird die FIFA jedoch nie werden. Korruption, Bestechung und enge Verbindungen zu Großkonzernen und reaktionären Regimen gehören seit jeher zur DNA dieser privaten Vereinigung. Man denke nur an die dubiose Sportmarketingagentur ISL, die 1982 während der Amtszeit von FIFA-Präsident João Havelange gegründet worden war und über die riesige Schmiergeldzahlungen abgewickelt wurden. Seit 20 Jahren ist die FIFA immer wieder mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert, und zwar nicht nur bei den Vergaben an Länder wie Russland und Katar, sondern auch bei der WM 2006 in Deutschland. Zwar wurde nach dem Bekanntwerden dieser Vorwürfe das FIFA-Exekutivkomitee abgeschafft und die Vergabe wieder an die Landesverbände übergeben, jedoch geht es bei der Vergabe noch immer um Milliarden und die Entscheidungsmacht liegt bei einer kleinen Zahl von Funktionären. Auch Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit WMs sind nicht neu, so gab es bereits Räumungen von Armenvierteln für die Weltmeisterschafen von 2010 und 2014.
Eine grundlegende Veränderung des Systems Fußball wird es nur geben, wenn wir den Sport von den Fesseln befreien, die die Kapitalinteressen darstellen.
(Funke Nr. 209/6.12.2022)