Nach einem Telefonat mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan am vergangenen Sonntag, gab Donald Trump bekannt, dass sie sich auf einen Rückzug der US-Truppen aus den kurdischen Gebieten Nordsyriens geeinigt haben und gab damit grünes Licht für einen türkischen Einmarsch. Seit Mittwoch ist diese Invasion Realität.
Laut Berichten begann die Offensive mit Luftangriffen und dem Bombardement der Städte Ras Al Ayn, Tal Abyad, Ayn Issa und Mishrafa, hat sich in der Zwischenzeit aber auf andere Ziele ausgeweitet. Es wurde auch berichtet, dass die nächste Phase eingeleitet wurde, in der türkische Truppen gemeinsam mit islamistischen Söldnergruppen in syrisches Gebiet einmarschieren.
Die Kräfte der kurdischen YPG, die das Gebiet bisher kontrollierten, sind zum entschlossenen Widerstand bereit. Jedoch befinden sie sich, konfrontiert mit der türkischen Armee (das zweitgrößte Heer in der NATO), unbestreitbar in einer sehr ungünstigen Lage.
Bereits jetzt hat der fortwährende Beschuss dutzende Todesopfer gefordert. Sollten die Kurden den Angriff nicht abwehren können, werden die Invasionstruppen ohne Zweifel gnadenlos vorgehen. Genau wie schon letztes Jahr während dem Überfall auf Afrin (wir berichteten) werden die islamistischen Fanatiker, die den türkischen Kräften als Stoßtruppen dienen, alles in ihrem Weg vergewaltigen, niederbrennen und ermorden.
Was will Erdoğan?
Erdoğan verschwendete keine Zeit und leitete die Offensive ein, die seinen wie er es nennt „Friedenskorridor“ schaffen soll. Dieser Plan, den er auch bei der letzten UNO-Vollversammlung vorstellte, sieht die Eroberung eines 50 Kilometer (oder potenziell bis zu 150 Kilometer) breiten Streifen in Nordsyrien vor, das Gebiet das gegenwärtig von den syrischen Kurden bewohnt wird. Die Türkei würde dieses Gebiet stellvertretend durch die Truppen der „Syrischen Nationalen Armee“ kontrollieren – einer umgemodelten islamistischen Söldnertruppe, die zuvor Teil der so genannten „Freien Syrischen Armee“ war. In diese Region sollen dann ca. 2 der insgesamt 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die derzeit in der Türkei leben, umgesiedelt werden.
Erdoğans Überfall hat mit Frieden natürlich überhaupt nichts zu tun. Wenn die Invasion bis zu ihrem erklärten Endziel durchgeführt wird, wird dies Tausende das Leben kosten und Millionen Kurdinnen und Kurden würden aus dieser Gegend vertrieben werden. Tatsächlich versucht Erdoğan die ethnische Zusammensetzung in der Region neu zu gestalten, um ein arabisch bevölkertes Protektorat als „Pufferzone“ gegen die Kurden zu errichten. Das würde ihm auch erlauben, den nationalen Konflikt zwischen Arabern und Kurden anzufeuern und so weitreichendere Kontrolle über das Gebiet zu erlangen.
Als Erdoğan an die Macht kam, stützte er sich noch auf die Kurden gegen das traditionell kemalistische Bürgertum in der Türkei. Er kritisierte die nationale Unterdrückung der Kurden und eröffnete Gespräche mit dem Führer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) – Abdullah Öcalan. Doch das änderte sich schlagartig, als die PKK-nahe HDP (Demokratische Partei der Völker) 2015 mit 13,1% der Stimmen ins Parlament einzog und zu einem Kristallisationspunkt für den zunehmenden Klassenkampf und die Stimmung gegen Erdoğan wurde.
Auch übernahm die Schwesterpartei der PKK, die PYD (und ihr militärischer Arm, die YPG), die Kontrolle über das nordsyrische Gebiet Rojava, nachdem Baschar al-Assad gezwungen war, sich im Angesicht einer revolutionären Bewegung in Westsyrien zurückzuziehen. Die mutigen Kämpferinnen und Kämpfer der YPG kämpfen für die Befreiung von der nationalen Unterdrückung, für eine Heimat, und wurden, auf Basis linker, sozialistischer Ideen, zur effektivsten Kraft gegen den Islamischen Staat. Das brachte sie in direkten Konflikt mit Erdoğan, der den IS – und andere islamistische Banden – bewaffnete und stützte, um seine eigenen imperialistischen Pläne in Syrien vorzubereiten. Die de-facto Unabhängigkeit der Kurden in Rojava wurde auch zu einem mächtigen Leuchtfeuer für die Kurden innerhalb der Türkei. So wurde der Aufstieg der kurdischen Befreiungsbewegung in jeder Hinsicht zu einer existenziellen Gefahr für Erdoğan. Gleichzeitig begann die türkische Wirtschaft zu stagnieren und Erdoğans Stern langsam zu verblassen, was ihn immer mehr dazu zwang, fanatischen Nationalismus und antikurdische Vorurteile zu bedienen, um an der Macht zu bleiben. Auf dieser Basis liegt Erdoğans Feindschaft gegen die Kurden und seine Entschlossenheit ihre autonome Region in Nordsyrien zu zerstören.
In den vergangenen Regionalwahlen musste Erdoğan die größten Niederlagen seit seinem Machtantritt vor 20 Jahren hinnehmen und verlor unter anderem wichtige Städte wie Istanbul und Ankara. Die türkische Wirtschaft steht unter massivem Druck und der ansteigende Klassenkampf reißt Erdoğan zunehmend den Boden unter den Füßen weg. Unter diesen Umständen nimmt die Frage der syrischen Flüchtlinge in der Türkei, wo die Kapitalisten oft verzweifelte Syrerinnen und Syrer als Lohndrücker missbrauchen, eine zentrale Rolle ein. Dies wurde von der Opposition genutzt, um den Fremdenhass gegen die Syrer zu schüren. Viele sind zornig, dass Erdoğan Milliarden in seine Intervention in Syrien steckt, während der Lebensstandard in der Türkei rapide abnimmt. Indem er die syrischen Flüchtlinge in die kurdischen Gebiete steckt, kann er gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: das wirtschaftliche Problem, die Flüchtlinge zu versorgen, lösen; seine Kritiker zum Schweigen bringen; und einen wichtigen militärischen Sieg in einem imperialistischen Abenteuer einfahren, das bisher nur Niederlagen und Demütigungen lieferte. Falls er es schafft ein Protektorat in Nordsyrien aufrechtzuerhalten, kann er den Nationalismus aufpeitschen und die reaktionärsten Teile der Gesellschaft um seine neo-osmanischen Pläne versammeln. In Wirklichkeit offenbart dies allerdings nicht Erdoğans Stärke, sondern gerade seine Schwächung, die wir in den letzten Jahren zunehmend beobachten konnten. In seiner Verzweiflung, seine Position zu verbessern, ist er gezwungen Risiken einzugehen, die schnell nach hinten losgehen können, so wie bisher alle seine Ambitionen in der Region zu intervenieren nach hinten losgegangen sind.
Trump und die Krise des US-Imperialismus
Nach seiner Ankündigung, die Truppen zurückzuziehen, ließ Trump eine Flut von widersprüchlichen Tweets und Statements los, die so wirkten, als würde er gleichzeitig seinen Entschluss verteidigen und sich dafür entschuldigen. Zuerst verteidigte er seine Entscheidung indem er erklärte, dass die Türkei ein wichtiger Handelspartner und NATO-Mitglied ist. Dann sagte er, dass er die Kurden weiterhin unterstützen würde und „falls die Türkei irgendetwas, das ich, in meiner großen und unerreichten Weisheit, als Tabu erachte, werde ich die Wirtschaft der Türkei komplett zerstören und auslöschen (Habe ich schonmal gemacht!)“ Dann fuhr er damit fort, dass die Präsenz der USA im Nahen Osten der größte Fehler in der Geschichte der Nation war und verkündete auf Twitter: „jetzt holen wir langsam & vorsichtig unsere großartigen Soldaten & das Militär nachhause. Unser Fokus liegt auf dem GROSSEN GANZEN! DIE USA SIND GROSSARTIGER ALS JE ZUVOR!“ Einen Tag später hat er sein Vorgehen offenbar damit verteidigt, dass die Kurden im 2. Weltkrieg ja auch nicht den USA geholfen hätten.
Diese manischen Aussagen sagen natürlich etwas über Donald Trumps Geisteszustand aus, aber sie spiegeln auch die innere Spaltung der US-amerikanischen herrschenden Klasse und die Krise des US-Imperialismus wider. Diese Spaltung hat sich bereits früher im syrischen Bürgerkrieg offenbart, wo beispielsweise die CIA-unterstützten islamistischen Kräfte und die Pentagon-unterstützten kurdischen Truppen 2016 rund um die Stadt Azaz aufeinanderprallten. Dieser Konflikt wurde begraben und es bestand ein de-facto „Waffenstillstand“ zwischen den beiden Flügeln des Establishments, der anhielt – solange sich in Syrien nichts weiterbewegte. Aber früher oder später musste eine Entscheidung getroffen werden: entweder graben sich die USA tiefer in Syrien ein, auf Kosten eines größeren Konfliktes mit der Türkei und einer wahrscheinlichen Niederlage als Perspektive, oder sie ziehen sich zurück und lassen eine Stärkung Russlands und des Irans zu. Es gab nie eine „richtige“ Entscheidung aus der Sicht der Imperialisten. Nichtsdestotrotz ist dieser Konflikt nun wieder ausgebrochen.
Während Trump den Rückzug ankündigte (obwohl er keinen genauen Stichtag angab) berichtete die Washington Post: „Hinter den Kulissen beeilten sich Verteidigungs- und Außenministerium, den anderen Verbündeten der USA in Syrien – vor allem Frankreich und Großbritannien – zu versichern, dass nur eine Handvoll Truppen verschoben werden würde und dass sich an der Präsenz und Mission der insgesamt ca. 1000 US-SoldatInnen in Nordsyrien nichts verändern würde.“ Das Pentagon, das die kurdischen Kräfte als Bollwerk gegen den russischen und iranischen Einfluss nutzen will, versucht offensichtlich den Rückzug zu sabotieren und sie lange wie möglich hinauszuzögern.
Zusätzlich haben PolitikerInnen beider Parteien Trump im Kongress kritisiert. Der rechte Republikaner Lindsey Graham hat sich mit den Demokraten zusammengetan, um einen Gesetzesentwurf durchzuboxen, der Sanktionen auf das türkische Militär und sogar Erdoğan selbst bedeuten würde. Andere „Falken“, wie Marco Rubio und Adam Kinzinger, kritisierten die Entscheidung alle aufs Schärfste. Im Angesicht eines drohenden Amtsenthebungsverfahrens und den Präsidentschaftswahlen nächstes Jahr ist die Unterstützung dieser Republikaner äußerst wichtig für Trump. Aus der Perspektive dieser Leute ist ein Rückzug aus Syrien das Eingeständnis einer Niederlage gegen Russland und den Iran. Es wäre auch eine internationale Demütigung, die eine Flanke gegen den US-Imperialismus eröffnet – sowohl gegenüber seinen Feinden, wie auch seinen Verbündeten, die sich nicht mehr darauf verlassen können, dass er auf ihrer Seite steht.
Und sie haben Recht. Aber, wie Trump auch richtigerweise betont hat, haben die USA Milliarden an Dollars und das Leben tausender SoldatInnen in Kriegen für andere (etwa die Herrschenden in Europa und am Persischen Golf) im Nahen Osten geopfert. Der Einsatz in Syrien ist da keine Ausnahme. Er betonte auch, dass die USA zehntausende IS-Kämpfer in kurdischen Gebieten gefangen halten, die sonst nach Europa fliehen würden, aber dass die Europäischen Mächte nur sehr beschränkt an der US-Intervention in Syrien teilnehmen würden. Jetzt werden diese IS-Gefangenen wohl freigelassen und, laut Trump, zu Europas Problem werden. Alle diese Kriege hinterließen der herrschenden Klasse in den USA billionenschwere Staatsschulden und eine tiefgehende politische und gesellschaftliche Krise. Die amerikanischen Massen haben genug vom Krieg und der Rückzug der Truppen im Nahen Osten war eines von Trumps Wahlversprechen, das er gerne vor der nächsten Wahl erfüllen möchte.
Trump sieht keinen großen Nutzen in den Kurden, die ein relativ unfruchtbares Land bewohnen, deren Wirtschaft unterentwickelt ist und die international von wenig Bedeutung sind. Auf der anderen Seite sieht er, wie die US-Präsenz in Syrien die Türkei – ein wichtiger NATO-Partner, der einen US-Luftwaffenstützpunkt und Atomwaffen beherbergt – in die Arme Russlands und des Irans treibt. In den letzten Jahren wandte sich Erdoğan vom US-Imperialismus ab. Das war besonders während dem Aufstieg des IS in Syrien und im Irak klar ersichtlich. Die USA sahen den IS als eine Gefahr für die Stabilität in der Region, während die Türkei und andere US-Verbündete ihn finanziell und logistisch unterstützten, um damit den Versuch zu wagen, Assad zu stürzen und den Iranischen Einfluss aus Syrien zu verdrängen. Danach, dachten sie, können sie dann hineinfegen und Marionettenregierungen einsetzen.
Aber sie waren nicht fähig dazu, ein signifikantes Truppenkontingent zu schicken, um den IS zu bekämpfen, und daher musste sich der US-Imperialismus nach anderen Kräften umsehen. Im Irak zum Beispiel war er gezwungen, sich auf das Miliznetzwerk des Iran zu stützen. Doch als das den US-Verbündeten am Golf sauer aufstieß, begannen sie damit, sich auf die PKK-verbündeten Milizen in Syrien zu stützen, als Gegengewicht zum Iran und später auch Russland. Das wiederum verärgerte die türkische herrschende Klasse, die in der potenziellen Unabhängigkeit der Kurden eine existenzielle Gefahr sieht und die selbst große imperialistische Pläne für Nordsyrien und den Irak hat. Die darauffolgende Krise drängte die Türkei und die USA im syrischen Bürgerkrieg in gegensätzliche Lager und führte auch zu besseren Beziehungen zwischen der Türkei, Russland und dem Iran. Trump glaubt, dass er durch den Rückzug und das Fallenlassen der Kurden, das Bündnis mit Erdoğan wieder stärken kann.
Der US-Kongress hingegen glaubt, dass das das Eingeständnis einer Niederlage ist – ein Zugeständnis an Russland und den Iran – und eine internationale Demütigung. Und sie haben recht. Russland und das Assad-Regime, flankiert vom Iran, sind bereit einzumarschieren, die Kurden zu entwaffnen und ihren Einfluss in Syrien auszuweiten. Einfluss, den vor allem die Russen dazu verwenden, um auf Kosten der USA die vorherrschende Kraft in der Region zu werden. Aber das hat nicht Trump zu entscheiden. Genauso wie Obama, als er dem Atomabkommen mit dem Iran zustimmte akzeptiert er lediglich die Realität – nämlich, dass der US-Imperialismus in der Krise ist und seine Grenzen erreicht hat. Die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Krise, in der er steckt, erlaubt es ihm nicht, so militärisch zu intervenieren, wie er es gerne möchte.
Es ist natürlich auch klar, dass es irgendeinen Deal zwischen Trump und Erdoğan gibt: ein quid pro quo, von dem wir in der Zukunft genaueres erfahren werden. Trump ist stets auf der Suche nach Unterstützung, und nachdem er innerhalb der herrschenden Clique in den USA extrem isoliert ist, sucht er diese auch im Ausland – so wie den Saudi-Kronprinzen Mohammed bin Salman und Benjamin Netanjahu (obwohl es so ausschaut, als würden diesem bald die Flügel gestutzt werden).
Heuchelei
Was man auch immer von Trump hält, von allen bürgerlichen PolitikerInnen spricht er seine reaktionären Ziele und Absichten am ehrlichsten aus – und genau wegen dieser Ehrlichkeit hasst ihn die Bourgeoisie so sehr. Das ganze Gerede westlicher PolitikerInnen von den „demokratischen Rechten des kurdischen Volks“ ist nichts als eine Tarnung für ihre eigenen Interessen. Es ist nur ein paar Jahre her, dass die kurdischen Kräfte Terroristen genannt wurden. Tatsächlich ist die PKK, die Schwesterorganisation der PYD, noch immer auf der Terrorliste der EU und der USA.
Die reaktionären Saudi-Herrscher haben sich gemeinsam mit ihren Marionetten in Ägypten gegen den türkischen Einsatz ausgesprochen. Aber das liegt nicht an bin Salmans oder al-Sisis besonderem Interesse an den demokratischen Rechten der Kurden, sondern weil die Saudis die Kurden als potenziellen Gehilfen gegen den Iran sehen. Sie nutzten sogar, gemeinsam mit Israel, kurdische Militärflughäfen, um gegen Iran-unterstützte Milizen im Irak loszuschlagen. Außerdem sehen die Saudis die Türkei als aufstrebenden Konkurrenten um die Vorherrschaft in der Region, insbesondere über die Sunnitischen Gebiete. Al-Sisi wird außerdem natürlich noch dadurch angetrieben, gegen den türkischen Imperialismus vorzugehen, weil dieser seine Gegner im eigenen Land, die Muslimbruderschaft, unterstützt.
Offenbar soll der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auch zusammentreten, um Syrien zu besprechen. Beantragt wurde dies von den fünf Europäischen Mitgliedsländern: Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien und Polen. Aber was werden diese Damen und Herren außer leere Worte anbieten können? [Anm. d. Übersetzer: Inzwischen hat der Sicherheitsrat getagt – und mit dem Veto der USA und Russland eine Verurteilung des Angriffs abgelehnt!] Wenn es diese Nationen wirklich kümmern würde, sollen sie doch ihre militärische Präsenz in der Region verstärken und die Arbeit der USA übernehmen, wie Donald Trump mehrfach betonte. Aber die Führer der EU halten natürlich lieber eine sichere Entfernung zu dem Krieg und Blutvergießen, von dem sie selber noch profitieren. Ihre jämmerliche Heuchelei und Unfähigkeit ist wohl das Widerwärtigste an allem. Es war erst im Jahr 2016, als die EU zustimmte Erdoğan Milliarden zu bezahlen, damit dieser den Flüchtlingsstrom aus Syrien aufhalten würde. Falls die EU Erdoğans Einsatz als Invasion bezeichnen würde, warnte er, würde er die Tore öffnen und Millionen Flüchtlinge in die EU lassen.
Die Misere des kurdischen Volks
Die Interessen der herrschenden Klassen, egal woher sie kommen, stehen im direkten Gegensatz zu den Interessen der armen und unterdrückten Massen. Wie immer sind die „kleinen“ Nationen nur Kleingeld in den Spielen und Konflikten der großen Mächte. Wenn diese die kleinen nicht mehr brauchen, haben sie keine Skrupel sie zu zerschlagen, oder es anderen zu erlauben das zu tun. Die USA, die EU, Russland, Iran, das Assad-Regime und sogar Erdoğan haben alle zu verschiedenen Zeitpunkten den Kurden ihre Unterstützung zugesichert. Aber sie alle haben die Kurden verraten, sobald es in ihre Interessenslage gepasst hat.
Das sind die Lektionen, die die kurdischen Massen jetzt auf die am härtesten denkbare Weise lernen. Aber es wäre ein noch größerer Fehler, wenn die kurdischen FührerInnen weiterhin auf die Unterstützung der imperialistischen Mächte setzen. In den vergangenen Tagen streckten sie ihre Hände in Richtung aller großen kapitalistischen Mächte aus. Zuerst baten sie Russland und das Assad-Regime um Unterstützung gegen die Türkei. Diese wären natürlich sehr froh zu „helfen“ – wenn die YPG sich entwaffnet und alle autonomen Strukturen und demokratischen Errungenschaften, die die Kurden in Syrien geschaffen haben, wieder abgeschafft werden. Er wäre nichts weniger als eine totale Kapitulation.
Zur selben Zeit reiste Ilham Ahmed, eine der Präsidentinnen des Exekutiven Rats von Rojava nach Europa, wo sie eine Pressekonferenz im Europaparlament gab, die EU dazu drängte, die Kurden nicht „im Stich zu lassen“ und sie dazu aufforderte, „eine Flugverbotszone einzurichten, um die Türkei wegen Verstößen gegen das internationale Recht zu bestrafen.“ Die FührerInnen der EU haben aber kein Interesse an den Rechten der Kurden, oder an überhaupt irgendetwas, außer den Interessen ihrer eigenen Bourgeoisie. Neben dem schmutzigen Flüchtlingsdeal 2016 unterstützte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel auch Erdoğans Wahlkampf, während er einen blutigen Krieg gegen die Kurden in der Türkei selbst führte.
Es ist nicht einmal zwei Jahre her, dass die Türkei den Distrikt Afrin in Syrien attackierte, der von der PYD gehalten wurde. Damals erklärte das Pentagon: „wir sehen [die Kurden] nicht als Teil unserer „ISIS besiegen“-Operationen, die wir dort durchführen und wir unterstützen sie nicht. Wir haben nichts mit ihnen zu tun.“ Es fügte später hinzu, dass „wir hoffen, dass der Einsatz in Afrin bald enden wird und wir erklärten bereits, dass wir wissen, dass die Türkei alles tun wird um zivile Opfer zu vermeiden. Wir haben keine Zweifel in dieser Angelegenheit.“ Das heißt das Pentagon hoffte auf einen schnellen Sieg der Türkei! Die EU vergoss natürlich wie immer Krokodilstränen, aber dann bestand der damalige britische Außenminister Boris Johnson darauf, dass „die Türkei das Recht hat, seine Grenzen zu schützen.“ In der Zwischenzeit lieferte Deutschland weiterhin hochentwickelte Waffen and die Türkei und Russland, das eine „friedensstiftende“ Kraft in Afrin war, dann aber rasch abgezogen ist, und den Syrischen Luftraum frei für die Bombardierung zehntausender unschuldiger Leute durch türkische Flieger gemacht hat. Die schlecht ausgerüsteten kurdischen Kräfte, die heldenhaft kämpften, hatten in einer direkten Konfrontation keine Chance gegen die türkische Militärmaschinerie. Die einzige Möglichkeit wäre gewesen, eine Bewegung in der Türkei aufzubauen und an den Klasseninstinkt der türkischen Soldaten zu appellieren, und so zu versuchen die Armee entlang von Klassenlinien zu spalten. Aber das scheint für die Führung der PYD und PKK ein Buch mit sieben Siegeln zu sein.
Und trotzdem haben die kurdischen FührerInnen sogar nach diesen Erfahrungen an ihrer Abhängigkeit von den verschiedenen kapitalistischen Mächten festgehalten. Es ist natürlich nichts Falsches daran, wenn eine revolutionäre Bewegung die Spaltung zwischen den Imperialisten ausnützt. Aber es ist ein tödlicher Fehler, wenn man sich auf diese Kräfte stützt, und sie zu sich einlädt!
In Wirklichkeit ist es so, dass diese Taktik der kurdischen Bewegung nie viel gebracht hat. Jedes Mal, wenn die kurdische Befreiungsbewegung einen wichtigen Schritt nach vorne gemacht hat, dann war es auf Basis revolutionärer und klassenbasierter Massenbewegungen und nicht durch die Zusammenarbeit mit den Imperialisten. In Türkei ging die Bewegung voran, als die HDP in der ganzen Türkei angetreten ist (und nicht nur in den kurdischen Gebieten), und sich auf eine radikale Rhetorik und auf klassenbezogene Forderungen stützte. Zum ersten Mal seit den 1980er Jahren wurde damit begonnen, die Brücke zwischen den kurdischen und türkischen ArbeiterInnen zu schlagen, die von den Herrschenden stets gespalten wurden – und das machte sie zur existenziellen Gefahr für Erdoğan. Wie wir bereits erklärten, war es in Syrien die Revolution im ganzen Land, die im westlichen Teil am stärksten war, die ein Machtvakuum eröffnet und der PYD erlaubt hat die Kontrolle zu übernehmen.
Die Anziehungskraft der kurdischen Bewegung, die auf demokratische Strukturen und eine revolutionäre Perspektive setzten, breitete sich weit über die kurdischen Gebiete aus und inspirierte Millionen von ArbeiterInnen, Armen und Jugendlichen im ganzen Nahen Osten und darüber hinaus. Aber anstatt dieses revolutionäre Potenzial zu nutzen, versuchten sich die kurdischen FührerInnen immer wieder in Manövern zwischen den imperialistischen Mächten – und mussten dabei immer mehr Zugeständnisse machen.
Ähnlich war es in der Türkei, wo die HDP in einer ganzen Reihe von Regionen de facto die Macht innehatte, in großen Städten wie Cizre, Silopi, Hakkari und Sirknak. Als Erdoğan 2015 seinen Krieg gegen die Kurden startete, erhoben sich die Massen und waren bereit, bis zum Ende zu kämpfen. Aber die PKK weigerte sich die Bevölkerung zu bewaffnen, oder auch nur zu einem Generalstreik aufzurufen, obwohl sie ein großes Waffenarsenal und eine Menge Ressourcen und Erfahrung aus dem Krieg in Syrien hatte. Das taten sie nicht, um ihre Verbündeten nicht zu verärgern, insbesondere die USA. Sie drängte die HDP auch dazu, eine nationalistischere Haltung einzunehmen, was nur Erdoğan in die Hände spielte, als dieser die nationalistische Spaltung dazu nutzte, um dem aufstrebenden Klassenkampf einen Riegel vorzuschieben. Schlussendlich führte Erdoğans Krieg zur Vertreibung zehntausender türkischer Kurden und zur Zerstörung riesiger Gebiete, ganze Städte und Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Das war eine signifikante Niederlage für die Befreiungsbewegung und führte zu massiver Demoralisierung unter den Kurden.
Auch in Syrien haben zahlreiche Zugeständnisse der FührerInnen der Bewegung diese untergraben. In Afrin dachten sie, Russland würde sie beschützen, aber Putin hinterging sie ohne zu zögern. Er interessiert sich nicht im Geringsten für die nationalen Minderheiten in Russland, von Syrien gar nicht zu sprechen. Die Führung der PYD machten auch einige andere Zugeständnisse an den US-Imperialismus, zum Beispiel gingen sie ein Bündnis mit den reaktionären Milizen des Stamms der Schammar und anderen reaktionären Banden ein und integrierten sie in die „Syrischen Demokratischen Kräfte“ (das offizielle Militär in Rojava). Außerdem weichten sie mehrmals die Verfassung von Rojava auf. FührerInnen, wie Ilham Ahmed, besuchten den US-Kongress und ließen sich mit reaktionären Republikanern wie etwa Paul Ryan ein, sie boten sogar Saudi-Arabien mehrmals eine Zusammenarbeit an. Nebenbei dämpfte die PKK auch ihre revolutionären Aktivitäten in der Türkei, im Irak und sonst überall, um ihren Verbündeten nicht auf die Füße zu treten. All das führt nur dazu, dass die Autorität der Bewegung in den Augen der Massen, den einzigen wirklichen Verbündeten des kurdischen Volkes, abnahm. Erst im Juni zogen sie, auf Geheiß der USA, ihre schwere Artillerie von der türkischen Grenze ab und erlaubten gemeinsame Patrouillen der US- und türkischen Streitkräfte im Grenzgebiet! Aber ein Funktionär im Pentagon gab zu: „Wir haben erheblich Zeit und Anstrengungen aufgewendet, um eine „Sicherheitszone“ zu errichten und hofften, dass das die Türken befriedigen und einen Einmarsch verhindern würde. Die Türken haben das nur dazu genutzt, um Aufklärung für ihren Einsatz zu betreiben. Das war extrem betrügerisch von ihnen.“ Nur einen Dummkopf kann die Verschlagenheit Erdoğans überraschen.
Auf ihrem Höhepunkt kontrollierte die PKK ein riesiges Territorium, inklusive dem Großteil der südlichen Grenze in der Türkei. Von Afrin ausgehend, nur von ein paar türkischen Außenposten unterbrochen, über Manbij durch Nordsyrien, die Südosttürkei und den Nordirak, wo die Organisation große Gebiete in der Dohuk-Region und den Kandil-Bergen an der Grenze zum Iran kontrollierte. Das hätte die Basis für einen revolutionären Kampf sein können, zunächst für die kurdische Befreiung (ein Slogan, der in allen kurdischen Gebieten massiven Anklang gefunden hätte) und weiter für einen Aufstand aller unterdrückten Völker in Syrien, der Türkei, im Iran und Irak. Aber wie wir gesehen haben weigerte sich die Organisation das zu tun, mit den Ausflüchten „wir sind zu beschäftigt in Syrien“ und „wir wollen nicht zu viele Fronten auf einmal eröffnen“ und sich nur auf den Kampf für „Autonomie“ innerhalb der jeweiligen (kapitalistischen) Staaten beschränkten, was auch immer das heißen soll. In Wirklichkeit verdeckt diese Herangehensweise nur das Streben der PKK-Führung ein Abkommen mit der Bourgeoisie zu schließen. Aber die Interessen der Bourgeoisie stehen im direkten Gegensatz zu denen der armen und unterdrückten Kurden. Dieser Tatsache kann man auch mit den cleversten Manövern nicht entgehen. Überlistet werden hier nicht die Bürgerlichen, sondern nur die kurdischen FührerInnen, die geglaubt haben der Schlüssel zu ihrer Anerkennung sind Abkommen mit den Kapitalisten.
Für einen revolutionären Krieg gegen Erdogans Angriff
Jetzt aber werden sie ausverkauft, zusammen mit dem Rest des kurdischen Volkes. Das war absolut vorhersehbar. Das bedeutet, dass eine weitere Tragödie für die Kurden vorbereitet wird, wie es schon so oft in den letzten 100 Jahren der Fall war. Der einzige Weg, das zu verhindern, ist es nicht, Pressekonferenzen in EU-Verwaltungsgebäuden abzuhalten. Stattdessen braucht es eine Rückkehr zu den revolutionären Traditionen des kurdischen Volkes und einen Appell an die Klassensolidarität der Massen in der Region und international.
Als erstes sollte es einen Aufruf zu einem Generalstreik in den kurdischen Gebieten der Türkei geben. Das muss verknüpft werden mit einer Bewaffnung der Bevölkerung und ihrer Organisierung in Nachbarschafts-Verteidigungskomitees. Der Krieg muss in die Türkei getragen werden, und zwar auf revolutionärer und klassenbasierter Basis – und nicht durch völlig kontraproduktive terroristische Angriffe, die nichts bewirken außer Erdogans Griff auf die türkische Gesellschaft noch zu verfestigen.
Dann müssen die Kurden öffentlich mit dem US-Imperialismus brechen, der in der Region extrem verhasst ist. Daraufhin braucht es einen Appell an die Gewerkschaften und Arbeiterklasse-Organisation der ganzen Türkei, sich dem Streik zur Beendigung des Krieges anzuschließen. Darüber hinaus muss dieser aber auch die Ankündigung enthalten, sich dem allgemeinen Kampf anzuschließen: gegen das Erdoğan-Regime, dem Kampf für höhere Löhne, Arbeitsplätze, Gesundheitsversorgung, Bildung und andere soziale und wirtschaftliche Forderungen. So eine Erklärung würde in der Türkei sicherlich ein breites Echo finden, denn die Lebensbedingungen verschlechtern sich unter dem Eindruck einer Wirtschaftskrise rapide.
Es sollte auch Aufrufe geben (und diese in Kasernen und Armeelager geschmuggelt und verbreitet werden), die einen Aufruf zum gemeinsamen Kampf für friedliche Koexistenz beinhalten und aufzeigen, wie reaktionär das Erdoğan-Regime wirklich ist, indem die dauernden Angriffe auf die türkischen ArbeiterInnen und Armen aufgezeigt werden. Es ist deutlich geworden, dass Erdoğan sehr vorsichtig damit ist, türkische Soldaten direkt im Kampf einzusetzen. Der Grund dafür liegt in aller erster Linie darin, dass er Angst davor hat, der generelle Unmut in der türkischen Gesellschaft könnte sich in der Armee widerspiegeln.
Das ist der Grund, warum fast die gesamte Last der ersten Kämpfe von den Jihadistischen Söldnern getragen worden ist. Das bekräftigt, dass Erdogan im eigenen Land schwach dasteht und es einen Weg ins Herz der türkischen Armee gibt, die von den Kurden nur besiegt werden kann, wenn sie an Klassenlinien gespalten wird. Auf einer revolutionären Basis, und wenn sie sowohl in Syrien als auch in der Türkei mit massenhaftem, bewaffnetem Widerstand konfrontiert ist, würde die Armee unter enormen Druck geraten und die Bedingungen für klassenbasierte Meutereien wären gegeben.
Die gleichen Maßnahmen müssen in der ganzen Region getroffen werden, insbesondere im Irak, Iran und Syrien, wo ein Aufruf für einen gemeinsamen Kampf gegen die verhassten Regimes ein breites Echo finden würde. Im Irak haben in der letzten Woche schon radikale Massenproteste gegen das Regime stattgefunden. Und auch im Iran haben die Massen das Mullah-Regime satt.
Die Streiks von Hafenarbeitern in Europa gegen Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien zeigen auch, dass es das Potential von Arbeiterklassesolidarität im Westen gibt. Die Gewerkschaften und Arbeiterparteien sollten unmittelbar damit beginnen, Streiks und Boykotte gegen die Lieferung von Waffen und Ressourcen zu organisieren, die die türkische Kriegsmaschinerie befeuern.
Wenn all diese Maßnahmen mutig und entschlossen durchgeführt werden, können die Kurden gegen die türkische Armee siegen. Aber wenn die kurdische Führung weiterhin auf die Imperialisten und Kapitalisten orientieren, ist eine Niederlage, auf welchem Weg auch immer, garantiert. Die kurdischen Massen haben immer wieder gezeigt, dass sie bereit sind, bis zum Ende zu kämpfen. Es wird Zeit, diesen Kampf zu seinem Abschluss zu bringen: Indem er sich entschlossen gegen die kapitalistischen Regimes richtet, die die Kurden in den letzten 100 Jahren unterdrückt haben.
- Nieder mit dem Angriffskrieg der Türkei gegen Rojava!
- Nieder mit den Imperialisten, die alle Komplizen in diesen Gräueltaten sind!
- Hoch die internationale Solidarität der Arbeiterklasse; für die Organisierung von Boykott-Streiks gegen Waffenlieferungen!
- Für die Verwandlung dieses imperialistischen Angriffs in einen revolutionären Krieg der Befreiung!
- Für ein unabhängiges, sozialistisches Kurdistan als Teil einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens!
Wir veröffentlichen hier eine Übersetzung eines Artikels von Hamid Alizadeh, original: https://www.marxist.com/turkey-attacks-northern-syria.htm