Der Mord an einer Journalistin rückt die Unterdrückung der PalästinenserInnen wieder in das Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Gleichzeitig gibt es erste Anzeichen des selbstorganisierten Protests. Julia Brandstätter berichtet.
Jerusalem, 13. Mai 2022. Der Trauerzug setzt sich in Bewegung. Eine große Menschenmenge wälzt sich vom Krankenhaus in Ostjerusalem in Richtung Friedhof. Israelische Polizisten attackieren die Menge mit Schlagstöcken und Tränengas. Der Sarg entgleitet den Trägern und stürzt fast zu Boden. Polizisten konfiszieren palästinensische Fahnen. Die Regierung will jede Solidaritätsbekundung mit Palästina unterdrücken.
15 Jahre lang hat die in der arabischen Welt beliebte Journalistin Shireen Abu Akleh über die Gräueltaten der israelischen Besatzungskräfte im Westjordanland berichtet. Israelische Scharfschützen ermordeten sie am 11. Mai 2022.
Unterdrückung erhöht Spannungen
In den besetzen Gebieten herrscht eine Art dauerhafter Kriegszustand. Bombardements, Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen prägen den Alltag der Menschen. Im Gazastreifen verloren große Teile der Bevölkerung ihre Existenzgrundlage, weil sie durch die Errichtung der israelischen Sperranlage auf palästinensischem Gebiet von ihren Feldern oder vom Meerzugang abgetrennt wurden. Sie sind, man kann es nicht anders sagen, Gefangene des größten Freiluftgefängnisses der Welt. Auch in Israel werden AraberInnen systematisch unterdrückt.
Nach dem Mord begann die israelische Regierung sofort mit der Unterdrückung jeder pro-palästinensischen Regung im eigenen Land. Bereits vor dem Begräbnis entfernte die Polizei etwa bei einer Razzia im Haus der Getöteten alle palästinensischen Flaggen. Die Angriffe auf den Trauerzug sind ein weiterer Ausdruck für die nervöse Stimmung im Land. Die Regierung befürchtete zu Recht, dass sich Abu Aklehs Beerdigung zu einem großen Protest gegen die jahrzehntelange Besatzung entwickeln würde. Sie wies daher in einer ersten Stellungnahme alle Schuld von sich und machte stattdessen PalästinenserInnen für die Schüsse verantwortlich.
Das wird sogar für die USA zu einem Problem. Sie sind der wichtigste Verbündete Israels und haben über Jahrzehnte die systematische Unterdrückung der PalästinenserInnen durch den israelischen Staatsapparat gedeckt. Doch solche immer offensichtlicheren Verbrechen gefährden die Position des US-Imperialismus in der Region selbst, der auch seinen Einfluss auf die arabischen Nachbarn Israels bewahren will.
CNN veröffentlichte zwei Wochen nach dem Mord eine eigene Analyse des Vorfalls, gestützt auf Video- und Audioanalysen, die zu dem Schluss kommt, dass Abu Akleh tatsächlich von israelischen Schützen erschossen wurde, und zwar absichtlich. Die US-Regierung forderte von Israel eine „vollumfängliche Aufklärung“ ein. Doch das heißt nicht, dass sich die USA auf die Seite der Unterdrückten stellen. Im Gegenteil. Die US-amerikanische herrschende Klasse sendet ihren israelischen KollegInnen auf diesem Weg eine Botschaft: Nicht über das Ziel hinausschießen – sonst werden unsere eigenen Interessen gefährdet!
Befreiungskampf an zwei Fronten
Denn unter den palästinensischen Massen brodelt es gewaltig. In ihrem Befreiungskampf kann sich die palästinensische Bevölkerung allerdings nicht auf die traditionelle politische Führung im eigenen Land stützen, die völlig von der israelischen Besatzungsmacht abhängig ist. Tatsächlich richten sich die Proteste, vor allem der Jugendlichen, schon seit einigen Jahren nicht mehr nur gegen Israel, sondern auch gegen die von der Fatah dominierte palästinensische Autonomiebehörde. Und auch die islamistische Hamas, die den Gazastreifen dominiert, wird immer öfter als Teil des Problems erkannt.
So übernehmen Jugendliche und ArbeiterInnen zunehmend selbst die Führung im Widerstand gegen das Besatzungsregime. Teilweise organisiert sich die Protestbewegung in den sozialen Medien. Die 24-jährige Aktivistin Muna El-Kurd veröffentlichte beispielsweise ein Video, in dem sie einen israelischen Siedler aufforderte, das Grundstück ihrer Familie zu verlassen. Das Video ging viral und löste Großdemonstrationen gegen die angeordnete Räumung aus. „Du stiehlst mein Haus“, sagte Muna zum Siedler, woraufhin dieser antwortete: „Wenn ich es nicht stehle, wird es jemand anderes stehlen.“
Die Eigeninitiative der palästinensischen ArbeiterInnen zeigte sich auch im Mai 2021, als sie nach dem Bombardement des Gazastreifens einen Generalstreik organisierten. Die Streikbewegung dehnte sich auch auf mehrere Städte in Israel aus und trug entscheidend dazu bei, dass die israelische Armee ihre Operationen einstellte (wir berichteten).
Der Weg nach vorn
Gleichzeitig nehmen Proteste in Israel zu. Die soziale Ungleichheit ist in der Corona-Krise massiv gestiegen, Israel ist eines der der beiden Länder mit der höchsten Kinderarmut in der OECD und gleichzeitig eines mit den höchsten Lebenshaltungskosten. Während die israelische Regierung Unsummen in die Armee pumpt, spart sie im Bildungs- und Gesundheitssektor. Das ist der soziale Hintergrund der Proteste.
Leistbare Wohnungen, ein Privatisierungsstopp und der Ausbau der Gesundheitsversorgung waren auch zentrale Forderungen während des Arabischen Frühlings in Israel: Hunderttausende jüdische und arabische Israelis demonstrierten Seite an Seite. Der Protest formierte sich nicht entlang von nationalen oder konfessionellen, sondern entlang von Klassenlinien. Das ist der Weg vorwärts.
Der palästinensische Widerstand kann nur erfolgreich sein, wenn eine Massenbewegung in der gesamten Region und nicht zuletzt in Israel die kapitalistische herrschende Ordnung überwindet. Der neuen Generation in Palästina, die sich gegen die Besatzung und ihre eigene politische Führung stellt, stellt sich die Aufgabe, eine revolutionäre Organisation aufzubauen, die die Fehler der Widerstandsbewegung der letzten Jahrzehnte überwindet. In Israel stellt sich die Aufgabe, sich mutig gegen die eigene herrschende Klasse und die Unterdrückung der PalästinenserInnen zu stellen, um so die andauernde religiöse und nationale Spaltung zu überwinden und die Basis für einen gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus in der ganzen Region zu schaffen. Denn die einzige Lösung im Teufelskreis aus Krieg, Unterdrückung und Leid ist eine Revolution mit dem Ziel, eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens zu schaffen!
(Funke Nr. 204/31.5.2022)