Die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in der Türkei hat keinen klaren Sieger hervorgebracht. Es braucht eine Klassenalternative. Von Roberto Sarti.

Der derzeitige Präsident Erdoğan (AKP) ist mit 49,3% zum ersten Mal dazu gezwungen, in eine Stichwahl zu gehen. Sein Gegenspieler wird Kemal Kılıçdaroğlu (CHP, Republikanische Volkspartei) sein. Diese Wahl war ein schwerer Prüfstein für die seit 20 Jahren regierende AKP. Aber trotzdem ist Erdoğan nicht gefallen.

Die Wirtschaftskrise hat die Bevölkerung hart getroffen: Die Inflation stieg in diesem Jahr laut offiziellen Statistiken auf über 80%, die türkische Lira befindet sich im freien Fall und die Prognosen sagen voraus, dass die Wirtschaft um höchstens 3% wachsen wird. 2021 und 2022 haben die größten Massenstreiks seit den 70ern das Land erschüttert. Und schließlich gab es das katastrophale Erdbeben vom 6. Februar, das allein in der Türkei über 50.000 Opfer gefordert und Millionen Menschen ohne Dach über dem Kopf zurückgelassen hat.

Diese Katastrophe war nicht einfach ein Naturereignis. Die Erdoğan-Regierung hatte zuvor zwölf mal in den letzten 20 Jahren den Baufirmen einen Straferlass gewährt, das letzte Mal 2019. Das führte zu weit verbreitetem Baupfusch, was wiederum das Ausmaß der Zerstörung enorm erhöhte. Einer der Grundpfeiler des Wirtschaftsaufschwungs in der Türkei ist der Bausektor, und die Baumogule haben immer die AKP unterstützt.

In den letzten Monaten ist daher die Wut gegen die Regierung und die Immobilienhaie gewachsen und neben der wirtschaftlichen Situation zu einem Faktor für die Stimmung im ganzen Land geworden. Und trotzdem führte das nicht zur Niederlage Erdoğans bei den Wahlen. Im Gegenteil: Sein Wahlbündnis (Volksallianz) hat im Parlament eine solide Mehrheit errungen, auch wenn die AKP 20 Sitze verloren hat.

Alle gegen Erdoğan?

Es ist klar geworden, dass die „alle gegen Erdoğan“-Strategie gescheitert ist. Kılıçdaroğlu ist auf dem Ticket des „Bündnis der Nation“ angetreten, das aus sechs Parteien besteht. Die meisten sind weit davon entfernt, irgendwie progressiv zu sein: Die „Gute Partei“ (IYI) ist eine Abspaltung der neo-faschistischen MHP, aber mit einer mehr pro-westlichen Linie. Die „Partei der Glückseligkeit“ (SP) ist eine islamistische Partei, von der sich die AKP einst abspaltete, um eine moderatere Linie zu vertreten.

Die CHP wird in den bürgerlichen Medien als Sozialdemokratisch beschrieben. In Wirklichkeit ist sie die historische kemalistische (bezogen auf Kemal Atatürk, den Gründer der modernen Türkei) Partei der Bourgeoisie. Kılıçdaroğlu hat während des Wahlkampfes dafür argumentiert, gegen Korruption und die hohen Lebenskosten mit klassisch bürgerlichen Maßnahmen zu kämpfen. So schlug er etwa „orthodoxe Geldpolitik“ und eine „Unabhängigkeit der Zentralbank“ vor. Übersetzt heißt das: Senkung der öffentlichen Ausgaben, um die Inflation einzudämmen, und die Rückgabe der vollständigen Kontrolle über die Banken an die Bourgeoisie.

Außenpolitisch hat er versprochen, die „internationalen Verträge zu respektieren, die die Türkei unterzeichnet hat“. Das heißt: „Im Falle meines Sieges werde ich weniger zwischen Washington und Moskau balancieren“, was die Durchsetzung der türkischen Interessen in der Region beschränken würde. Man erinnere sich: Ankara kontrolliert die zweitgrößte NATO-Armee. Bei der Frage der Flüchtlinge aus Syrien (etwa 3,6 Mio.) war seine Position, dass die CHP sie alle abschieben würde.

Beim Kampf gegen seine Gegenspieler schreckte Erdoğan vor nichts zurück. Er nutzte die staatliche Kontrolle über die Medien, das Fernsehen und die sozialen Netzwerke skrupellos aus. Er wäre sicherlich dazu bereit gewesen, die Wahlen für nichtig zu erklären, wie das bei den Kommunalwahlen in Istanbul 2019 der Fall war. Aber bisher hatte er das nicht nötig.

Er hob im Januar den Mindestlohn um 55% für alle an und eine Woche vor der Wahl nocheinmal um 45% für Staatsbedienstete. Er senkte auch die Gaspreise und das Pensionsantrittsalter, was 2 Millionen Arbeitern erlaubte, sofort in den Ruhestand zu gehen. Er hatte diese Art der Wahlgeschenke schon zuvor benutzt, aber in der jetzigen Situation des fehlenden Wirtschaftswachstums wird das nur dazu führen, dass die Inflation weiter steigt und der massive Schuldenberg des türkischen Staates weiter wächst. Was mit der linken Hand gegeben wird, wird mit der rechten wieder genommen.

Er nutzte auch eine in der Türkei sehr beliebte antiamerikanische Rhetorik, indem er Biden auf seiner Abschlusskundgebung vorwarf, seine Niederlage herbeizuwünschen. Es ist durchaus möglich, dass in dieser Aussage ein wahrer Kern steckt, wie die New York Times bestätigt:

„Beamte und Analysten in den USA sind der Überzeugung, dass ein Führungswechsel in der Türkei im Interesse beider Länder (die geteilte strategische Interessen haben) wäre, um die Beziehungen zu erneuern und potentiell die Türkei zurück in den Westen zu ziehen.“

Eine andere Maßnahmen die zu Erdoğans Erfolg beitrug, war es, hunderttausenden syrischen und afghanischen Flüchtlingen zu erlauben, sich in den Wahllisten einzutragen. Wenn man die rassistische Haltung der Opposition bedenkt, ist es nicht schwer, sich auszumalen, für wen sie gestimmt haben!

Die Linke auf Irrwegen

Die Demokratische Partei der Völker (HDP), welche die größte Kraft der kurdischen Linken ist, hatte sich der „alle gegen Erdoğan“-Strategie völlig untergeordnet. Sie rief zur Wahl von Kılıçdaroğlu auf, obwohl die CHP die unterdrückerischen Maßnahmen von Erdoğan unterstützt und die HDP aus ihrem Wahlbündnis ausgeschlossen hatte. Auf dem Altar des „kleineren Übels“ opferte die HDP alle Prinzipien und unterstützte einen kemalistischen Kandidaten – einen Kandidaten der politischen Strömung, die auf Grundlage der Ablehnung der Rechte von nationalen Minderheiten entstanden ist.

Die HDP erreichte 8,71% und 61 Abgeordnete bei den Parlamentswahlen, und das trotz der Zensur und der Entscheidung, auf der Liste der YSP (Grüne Linke Partei) anzutreten, um einem Verbot bei den Wahlen zuvorzukommen, das Erdoğan angedroht hatte. Damit hat sich die Partei als die drittstärkste Kraft stabilisiert. Weitere vier Abgeordnete gingen an die Arbeiterpartei der Türkei, die maoistischen Ursprungs ist und ebenfalls Kılıçdaroğlu unterstützte. Dieses Resultat zeigt das Potential für eine linke Kraft im Land, wenn diese auf einem klaren Klassenprogramm antritt und keine Kompromisse mit verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie schließt.

Es ist nicht unsere Aufgabe, vorherzusehen, wer bei den Stichwahlen gewinnen wird. Falls das weniger wahrscheinliche Ereignis eintritt und Kılıçdaroğlu das Ergebnis der ersten Runde auf den Kopf stellt, wäre er im Parlament in einer Minderheit und müsste die Unterschiede zu Erdoğan sogar noch mehr verwässern, um zu regieren.

Stattdessen ist es unsere Pflicht, aus den Ergebnissen der ersten Runde zu lernen. Streiks und Massenmobilisierungen haben Erdoğan 2021 und 2022 erzittern lassen. Skandale und der Umgang mit dem Erdbeben haben dazu geführt, dass die Unterstützung für ihn in den Umfragen kollabiert ist.

Die Chance, den „Sultan“ loszuwerden, ist durch unprinzipielle Wahlmanöver vertan worden. Erdoğan kann nicht mit dem „kleineren Übel“ besiegt werden. Nur durch Klassenkampf kann man Erdoğan und die verrottete Politik des türkischen Kapitalismus loswerden.

Wäre die HDP mit einem Programm der Arbeiterklasse ausgestattet, das die tagtäglichen Kämpfe für eine erträgliche Existenz mit einem Plan der sozialistischen Transformation der türkischen Gesellschaft verbindet, könnte das einen Keil in die Versuche treiben, die Arbeiter und Jugend anhand nationaler und religiöser Linien zu spalten und die ausgebeuteten Massen vereinen. Die IMT arbeitet daran, diese revolutionäre Alternative in der Türkei und im gesamten Nahen Osten aufzubauen.

(Funke Nr. 214/24.05.2023)


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