Es ist der größte Bilanzskandal der jüngeren Vergangenheit. Wirecard kann 1,9 Mrd. Euro, ein Viertel der gesamten Bilanzsumme, nicht mehr finden. Zwei Österreicher stehen an der Spitze der ganzen Affäre – und sind enge Freunde von Kurz (Markus Braun) und der FPÖ (Jan Marsalek). Willy Hämmerle berichtet.

Es begann, wie üblich, relativ harmlos. Im Frühjahr 2019 berichtete die Financial Times (FT) von Ungereimtheiten in der Bilanz des Finanzdienstleisters Wirecard. Der Rising Star am deutschen Aktienmarkt soll demnach Geld zwischen verschiedenen Tochterfirmen hin und her verschoben haben, um damit die Bilanzen künstlich aufzublasen.

Es war nicht das erste Mal, dass Vorwürfe gegen Wirecard erhoben wurden, nachweisen konnte man dem Unternehmen allerdings lange nichts. Wirecard selbst sicherte sich durch positive Berichte der Wirtschaftsprüfer Ernst&Young ab, während staatliche Untersuchungen regelmäßig ins Leere liefen. Diese können allerdings auch nicht allzu gewissenhaft geführt worden sein: Zuletzt berichtete die Frankfurter Allgemeine, dass eine 16-monatige Prüfung aus den Jahren 2018/2019 durch die „Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung“ im Grunde genommen nur einem einzigen Mitarbeiter anvertraut war.

Nach einem weiteren Enthüllungsartikel der FT im Oktober 2019 gab die heutige Pleitefirma beim Prüfunternehmen KPMG eine Sonderprüfung in Auftrag, um endlich wieder Ruhe zu haben. Im April 2020 das Ergebnis: Die Prüfer schließen, sie könnten nicht untersuchen, ob eine Reihe von bilanzierten Umsätzen tatsächlich existieren, weil sie keine Belege dafür finden können. Für den Vorstandsvorsitzenden Markus Braun kein Grund zur Sorge, er sieht die Wirecard durch den Bericht entlastet. Die Börsen bleiben aber skeptisch: der Kurs brach in den folgenden Tagen um ein Viertel ein.

Zwei Monate später erstattete die deutsche Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) Anzeige gegen den Vorstand und ließ Durchsuchungen vornehmen – eineinhalb Jahre nach den initialen Vorwürfen. Danach geht alles Schlag auf Schlag. Wirecard gibt zu, dass „Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insg. 1,9 Mrd. Euro mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen“ (Wirecard, 22.06.) Die Firma geht in Insolvenz, der Vorstand wird verhaftet.

Was ein Sturm im Wasserglas hätte sein sollen, entwickelte sich so innerhalb weniger Monate zum milliardenschweren Finanzskandal.

Gern gesehene Gäste

Im Zentrum stehen dabei zwei Österreicher: der vorher genannte Markus Braun und Chef-Manager Jan Marsalek, der ebenfalls im Vorstand sitzt.

Beide sind in der heimischen Politik bestens vernetzt. Braun fiel in der Vergangenheit als Großspender für die NEOS auf, sattelte aber 2017 nach der Machtübernahme von Sebastian Kurz auf die ÖVP um, und setzte von da an mit insgesamt 70.000 Euro und gemeinsamen Wahlkampfauftritten auf den zukünftigen Kanzler. Belohnt wurde er dafür mit einer Position in der eigens eingerichteten „Stabstelle für Strategie, Analyse und Planung“ (genannt Think Austria), dem persönlichen Thinktank von Kurz im Bundeskanzleramt. Das Attest der Leiterin der Denkfabrik im Jänner 2020: „Wirecard-Gründer Markus Braun hat einen fundierten Blick in die Zukunft.“ Für Kurz selbst, der sich nun sehr gerne von Braun distanzieren würde, war er kürzlich noch „einer der erfolgreichsten Manager im Digitalbereich“.

Jan MarsalekBild: BKA.

Jan Marsalek wurden nicht weniger Rosen gestreut, seine Biographie liest sich aber schon abenteuerlicher. Er soll unter anderem vertrauliche Informationen aus Verfassungsschutz und Innenministerium an die FPÖ weitergegeben haben (Presse, 09.07.) und gute Kontakte zum russischen Geheimdienst pflegen, so prahlte er mit der Formel des Nervengifts Novichok (Kurier, 10.07.). Sein Steckenpferd war der Versuch, eine Miliz in Libyen zur Flüchtlingsbekämpfung aufzubauen. Unter dem Deckmantel der „Entwicklungshilfe“ schlug er diese dem Verteidigungsministerium vor, die Financial Times berichtete von einer Zusage über 120.000 Euro*.

Wen wundert es also, dass ein Staatsapparat, in der solche Menschen mühelos in die innersten Zirkel vordringen können, beim Aufdecken der Betrügereien eben dieser Leute nicht die beste Figur macht? Diese Verstrickung des Staatspersonals mit dem Kapital („über tausend Fäden mit der Bourgeoisie verbunden“ – Lenin) hat System. So war zum Beispiel bei den MitarbeiterInnen der deutschen BaFin, die eine Kontrolle der Wirecard monatelang hinausgezögert hat, die Wirecard-Aktie das meistgehandelte Papier im Jahr 2020 (ARD, 14.08.).

Think Austria wiederum versteht sich als Vernetzungsplattform zwischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Sonst hält man sich bedeckt, schaut man sich die Homepage im Bundeskanzleramt an findet man nicht viel konkretere Infos. Zusammenfassen kann man es als: „Vernetzung & Projekte“. Bekannt ist nur, dass die s.g. „Stabstelle“ ca. 250.000 Euro an Personalkosten im Jahr verschlingt, und größtenteils aus Unternehmern besteht. Die Biographie der Leiterin Antonella Mei-Pochtler steht sinnbildlich für den Charakter dieser Institution: Elite-Uni, Consulting, Management, eine Tour durch verschiedene Aufsichtsräte, Endziel Staatsapparat.

Ein kaputtes System

Tatsächlich sind diese Leute Nutznießer einer tiefen Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems als Ganzem. Wirecard ist hier bei weitem keine Ausnahme.

Von den Unmengen maroder Banken einmal gar nicht zu sprechen, sind insbesondere der Finanz- und Technologiesektor voll von hochdotierten Unternehmen, die am Aktienmarkt luftige Höhen erklimmen, aber – selbst wenn man ihnen unterstellt, saubere Bilanzen zu führen – nicht oder nur knapp in der Lage sind, mit den laufenden Einnahmen überhaupt die Zinslast ihrer Kredite zu stemmen. Prominentestes Beispiel dafür ist Tesla, das momentan für jedes verkaufte Auto mehr als 1 Mio. US-Dollar wert ist und seit Monaten Rekordkurse verzeichnet, aber erst 2019 zum ersten Mal leichte Gewinne erzielen konnte.

Der Markt ist voll von solchen „Zombies“, aufgepumpt und am Leben gehalten nur durch die jahrelange Niedrigzinspolitik der Zentralbanken tun sie alles was möglich ist, um ihre drohende Insolvenz ins jeweils nächste Geschäftsjahr zu verschleppen. Die Deutsche Bank schätzt den Anteil solcher Firmen in der US-Wirtschaft auf fast 20%.

Doch wozu in die Ferne schweifen?

Mit der Mattersburger Commerzialbank hat Österreich seine eigene Wirecard, knapp 700 Millionen Euro in der Bilanz stellten sich als frei erfunden heraus. Auch hier gab es in der Vergangenheit bereits Untersuchungen durch die Finanzmarktaufsicht, die kaum Ergebnisse lieferten, auch hier wird plötzlich alles gefunden, was über Jahre niemand bemerkt haben soll. Der einzige Unterschied: in Österreich läuft der Beschiss unkomplizierter. Statt umfangreichen Tochterfirmenkonstruktionen in Asien „borgte“ man einfach dutzende Millionen ohne Sicherheiten her (derStandard berichtete am 07.09.) oder erfand einfach gleich „Kredite“ für ÄrztInnen und andere Personen, deren persönliche Daten leicht im Internet zu recherchieren sind (Profil, 25.07.) – aufgefallen ist es niemandem.

Die Wirecard-Affäre wird sich nur als die Spitze des Eisbergs herausstellen. „Visionäre Unternehmer“ vom Schlage Brauns und Marsaleks gibt es wie Sand am Meer. Solange sie und die von ihnen gesponsorten PolitikerInnen in der Gesellschaft das Sagen haben, solange wird der Staat nicht in der Lage dazu sein, den Betrügereien der Banken und Unternehmen einen Riegel vorzuschieben. Daran kann sich nur etwas ändern, wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter das Heft in die Hand nehmen, die Geschäftsbücher aufmachen und selbst überprüfen, was es mit den frisierten Bilanzen der Spitzenunternehmen auf sich hat.

Solange das nicht passiert, werden immer wir für die Folgen dieser „Missgeschicke“, wie verlorene 1,9 Milliarden Euro, aufkommen müssen. Das gilt nicht nur für die hunderten Wirecard-Mitarbeiter, die jetzt ihren Job verlieren, sondern für uns alle, wenn wieder ein Sparpaket geschnürt wird, um die nächste Pleitebank zu retten.

(Funke Nr. 186/10.9.2020)


 *Korrektur: In der Print Version schrieben wir versehentlich von 150.000 Euro.


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