Wera Iwanowna Sassulitsch war eine bedeutende Theoretikerin der revolutionären Arbeiterbewegung in Russland. Von Sandro Tsipouras.

Die am 8. August 1849 geborene Tochter einer verarmten Adelsfamilie begann schon mit 17 Jahren, Fabrikarbeitern Literaturkurse zu geben. Mit 20 Jahren wurde sie aufgrund ihrer Kontakte zum Anarchisten Sergei Netschajew erstmals verhaftet. Nach ihrer Freilassung 1873 ging sie nach Kiew, wo sie rasch zur Führungsfigur der anarchistischen Gruppe „Kiewer Rebellen“ wurde. 1878 verübte sie ein Attentat auf General Alexander Trepow und floh daraufhin in die Schweiz. Dort näherte sie sich erstmals dem Marxismus an.

Im Jahr 1881 führte sie einen Briefwechsel mit Karl Marx: Sie wollte wissen, ob er es für möglich hielt, dass die russische Dorfgemeinschaft, in der der Boden Gemeineigentum war, sich direkt zu einer sozialistischen Form der Landwirtschaft weiterentwickeln könnte, oder ob er es für unvermeidlich hielt, dass sie zunächst durch die kapitalistische Entwicklung zerstört werden müsste. Marx antwortete ihr, er sei überzeugt, „daß diese Dorfgemeinde der Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Rußlands ist“. Damit stellte er klar: Es gibt keinerlei historische Notwendigkeit für rückständige Länder, zunächst durch eine „Etappe“ der kapitalistischen, bürgerlich-demokratischen Entwicklung zu gehen.

Sassulitsch wurde so zur Marxistin. Sie übersetzte  die Hauptwerke des Marxismus (z. B. „Manifest der Kommunistischen Partei“) erstmals ins Russische und war neben Georgi Plechanow und Pawel Axelrod Mitbegründerin der Gruppe „Befreiung der Arbeit“, die im Jahr 1889 die russische Sektion der Zweiten Internationale wurde. Nachdem 1898 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands gegründet worden war, beteiligte sie sich, noch immer im Genfer Exil, gemeinsam mit Lenin an der Gründung der Zeitung „Iskra“ („Der Funke“). Doch diese Zusammenarbeit hielt nicht lange: Im Jahr 1903 kam es zur Spaltung der Partei in Bolschewiki und Menschewiki. In dieser Spaltung verhielt sie sich so, als hätte sie den Brief von Karl Marx völlig vergessen. Sie ergriff Partei für die Menschewiki, die eine bürgerlich-kapitalistische „Etappe“ in Russland für notwendig hielten und ihre Hauptaufgabe darin sahen, die bürgerlichen Liberalen an die Macht zu bringen.

1905 kehrte sie nach Russland zurück, doch nach der Niederlage der Revolution verfiel sie in Zynismus und Resignation und driftete nach rechts ab. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, sprach sie sich für eine Unterstützung der zaristischen Regierung für die Dauer des Krieges aus. Nach der Februarrevolution 1917 unterstützte sie die bürgerliche provisorische Regierung und kämpfte gegen die Oktoberrevolution. Am 8. Mai 1919 starb Wera Sassulitsch, die Mutter des russischen Marxismus, in Petrograd. Das größte Ereignis der Menschheitsgeschichte, die Oktoberrevolution, hätte ohne ihre Vorarbeit nicht so stattfinden können, und doch betrachtete sie es mit Ablehnung und Unverständnis – sie hat ihre eigene historische Bedeutung nie richtig würdigen können.


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